Potsdam-Mittelmark: Obstzüchterinnen im Massenquartier Mark und Metropole: Die Werderschen und Berlin
Werder (Havel) - In den 50er Jahren waren die mit Obst, Gemüse und Blumen hochbeladenen Rollwagen, die die Kassins mit in die S-Bahn genommen hatten, am Bahnhof Westkreuz plötzlich verschwunden. Schreckensbleich meldete dies Sohn Walter seinem Vater, erhielt aber einen Rüffel, er solle den Mund halten.
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Werder (Havel) - In den 50er Jahren waren die mit Obst, Gemüse und Blumen hochbeladenen Rollwagen, die die Kassins mit in die S-Bahn genommen hatten, am Bahnhof Westkreuz plötzlich verschwunden. Schreckensbleich meldete dies Sohn Walter seinem Vater, erhielt aber einen Rüffel, er solle den Mund halten. Auf der Rücktour standen die Wagen – leer – dann ab Westkreuz wieder im Zug. Mit solcher List gelang es Obstzüchtern, bis zu Mauerbau 1961 wenn auch geringe Mengen Werderscher Früchte doch noch an die alten Kunden im Westen der geteilten Hauptstadt zu liefern.
Diese Anekdote gab Werders Marketingchef Walter Kassin zum besten, als er mit der Heimatkundlerin Heidi Garbe und Blütenkönigin Astrid Milde in der diesjährigen Hauptausstellung von Kulturland Brandenburg auftrat, die den Beziehungen zwischen „Mark und Metropole“ nachspürt. Diese Beziehungen gibt es zwischen Berlin und Werder seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, als die Frauen der Obstzüchter Süßkirschen und andere Früchte, Gemüse und Maiblumen in zwölfstündigen Kahntouren durch die Nacht in die Hauptstadt ruderten und dort auf den Märkten verkauften. Später nutzten sie dafür einen um 1850 angeschafften Raddampfer, dann die 1846 eingerichtete Eisenbahnstrecke. Nach dem Verkauf nächtigten sie zu 20 Personen in Berliner Massenquartieren, um in aller Frühe nach Werder zurückzukehren. Hier kümmerten sie sich um den Haushalt und halfen in der Ernte, dann begann der Kreislauf von Neuem. Mehr als vier Stunden Schlaf waren in der Saison nicht drin, während der Fahrt wurde gestrickt.
Für Walter Kassin, dessen Vorfahren seit 1670 in Werder Wein und Obst anbauten und durch die Züchtung der Süßkirsche „Kassins Frühe“ bekannt wurden, sind dies Familienüberlieferungen – ebenso für Heidi Garbe, deren Altvordere nicht zu den Obstzüchtern mit vier und mehr Hektar Land zählten, sondern zu den „Muckern“, eher ein Schimpfwort. Sie verkauften das Obst aus ihren Gärten hinterm Haus an Händler und ermöglichten ihnen, die Preise zu drücken.
Obstzüchter und Mucker waren nicht nur ungeheuer arbeitssam, sondern auch findig. Nicht alle Erzeugnisse ihres „Dreietagenanbaus“ (Obstbäume, darunte Sträucher, unten Beete mit Erdbeeren u.a.) eigneten sich für den Frischverkauf. Sie wurden eingeweckt, zu Säften und vor allem zu Obstwein verarbeitet. Um auch diese Produkte an den Berliner zu bringen, ließen sich die Werderschen 1879 das Baumblütenfest einfallen. Das Volksfest entsprang handfesten wirtschaftlichen Interessen.
Gegen die politischen Verwerfungen nach 1945 vermochte Findigkeit nichts auszurichten. Mit der deutschen Teilung verloren die Obstzüchter ihren Westberliner Markt, statt der vielfältig strukturierten Betriebe lieferten riesige gärtnerische Genossenschaften täglich güterzugweise Obst in alle Gebiete der DDR. Damit war es nach der Wiedervereinigung vorbei, die großen Plantagen wurden zu einem erheblichen Teil gerodet.
Die in die Ausstellung gekommenen Werderschen entließen ihr Publikum mit einem positiven Ausblick. Auf immerhin 3500 von in der DDR-Zeit 10 000 Hektar wird wieder Wein und Obst angebaut, so von Nachfahren alter Obstzüchter wie der Familie Lindicke. Mit Erlebnishöfen, Hofläden und Selbstpflücke stellen sie sich in gewohnter Findigkeit auf Marktveränderungen ein – und schicken sich an, ihr früheres Hauptabsatzgebiet im Westteil Berlins zurückzuerobern, wo Werderfrüchte wieder auf zahlreichen Märkten angeboten werden. Erhart Hohenstein
Erhart Hohenstein
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