Potsdam-Mittelmark: „Permanente Grenzerfahrung“
20 Jahre leitete Stefan Baier die Pfarrstelle in Neuendorf. Jetzt ist er Brandenburgs oberster Notfallseelsorger
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Potsdam-Mittelmark - Ein Busunfall auf der Autobahn: Entsetzte Angehörige von Todesopfern, apathisch wirkende Verletzte und äußerst angespannte Rettungskräfte. Eilig alarmierte Notfallseelsorger kümmern sich um alle, damit sie „wieder Boden unter den Füßen bekommen“, wie es Pfarrer Stefan Baier beschreibt. Er ist Brandenburgs neuer Leitender Notfallseelsorger und zuständig für die rund 220 ehrenamtlichen Kräfte – Pfarrer, speziell geschulte Ärzte, Rettungsassistenten oder Psychologen. Die Teams in jedem Kreis sind rund um die Uhr über die Feuerwehr-Notrufnummer 112 rufbereit.
Beim Großteil der fast 460 Einsätze im vergangenen Jahr mussten die Seelsorger die Polizei beim Überbringen von Todesnachrichten unterstützen. Aber auch zu Unfällen, Bränden oder bei angedrohtem Selbstmord sind die Notfallseelsorger an Ort und Stelle. „Wir wollen den Betroffenen einen Halt geben, Hilfe zur Selbsthilfe anbieten und einfach die Möglichkeit, Emotionen rauszulassen“, umreißt Baier die Arbeit, die er als „permanente Grenzerfahrung“ bezeichnet.
Schließlich gehe es immer um Tod, Leid oder Sterben. „Wir müssen es schaffen, in der Situation selbst ganz dicht an den Betroffenen zu sein, aber danach auch wieder loszulassen“, sagt der 46-Jährige. Als dreifachem Vater gehe ihm besonders nahe, wenn ein Kind gestorben sei. „Aber ich darf das Leid der anderen nicht zu meinem eigenen werden lassen, dann kann ich nicht helfen“. Helfen, das kann heißen: Einfach nur da sein, und einem Angehörigen als erste Hilfe still zur Seite zu stehen. Das kann aber auch ein Gespräch oder ein Gebet sein. „Was auch immer von den Betroffenen gewünscht wird.“ Aber, um Vorbehalte auszuräumen: „Wir sind nicht die Schwarzkittel, die Bibel schwingend daher kommen“. Der in Schwerin geborene Baier hat nach 20 Jahren seine Pfarrstelle in Neuendorf (Potsdam-Mittelmark) aufgegeben, um sich jetzt ganz der Seelsorge zu widmen. Eine halbe Stelle hat er weiter als Krankenhausseelsorger in Beelitz-Heilstätten, die andere nun als „Beauftragter für den Dienst in der Notfallseelsorge und der Seelsorge bei der Feuerwehr, den Rettungsdiensten und dem Katastrophenschutz“.
Er habe eine gewisse „Verrücktheit zur Seelsorge“, bekennt Baier. Schließlich habe er in eigenen Krisensituationen erfahren, „wie befreiend, lösend und sogar lebensrettend es ist, wenn jemand da ist, der das eigene Elend mit aushält“. Dabei werden Notfallseelsorger mit einer großen Bandbreite an Reaktionen der Betroffenen konfrontiert: Die Frau, die sich nach dem Tod ihres Kindes völlig einigelt, der Mann, der nach einer Todesnachricht die Kücheneinrichtung zertrümmert, oder der Familienvater, der seine Wut herausschreit, als sein gerade abbezahltes Haus in Flammen aufgeht.
Seit 1993 ist in Brandenburg eine jetzt flächendeckende Notfallseelsorge aufgebaut worden, die Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) als „absolut unverzichtbar“ bezeichnet. Sie wird getragen vom Ministerium, den Kreisen, den beiden großen Kirchen und den Hilfsorganisationen Malteser Hilfsdienst und Johanniter-Unfall-Hilfe. Ein Ziel Baiers ist es, die Teams weiter auszubauen und für noch mehr Akzeptanz bei den Einsatzkräften zu sorgen, damit diese die Notfallseelsorger schnell alarmieren.
„Außerdem will ich für eine Supervision kämpfen“ - das heißt, dass die Seelsorger nach den Einsätzen bei geschulten Kräften selbst die Chance haben, sich von Belastendem zu befreien. Baier selbst hat es sich zur Gewohnheit gemacht, nach Einsätzen sofort am Computer das Protokoll darüber zu tippen - „um alle Bilder wieder an die Seite legen zu können“. Bilder von Opfern im ausgebrannten Auto, der verzweifelten Mutter nach dem plötzlichen Kindstod der Tochter oder von einer verheerenden Explosion auf einem Betriebsgelände.dpa
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