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Potsdam-Mittelmark: Stadtkommandant noch immer unbekannt

Heute vor 63 Jahren wurde Werder kampflos an die Rote Armee übergeben und so vor der Zerstörung bewahrt

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Werder (Havel) - Wer hat Werder zum Ende des 2. Weltkriegs vor der Zerstörung bewahrt? Dieser und vielen anderen offenen Fragen will sich der Heimatverein Werder (Havel) jetzt verstärkt widmen. Gesucht und befragt werden Zeitzeugen, die das Kriegsende 1945 in der Stadt miterlebt haben. Während über Potsdam und einige Umlandgemeinden schon aus der DDR-Ära eine Fülle von Veröffentlichungen vorliegt, ist für Werder nicht viel mehr als die Tatsache bekannt, dass die Stadt heute vor 63 Jahren, am 3. Mai 1945, kampflos an die Rote Armee übergeben wurde. Auch schriftliche Quellen über diese stadtgeschichtlich bedeutende Zeit wurden bisher nicht gefunden.

Im Heimatverein berichteten Karl Diedloff und Günther Paul, die als 14-Jährige die letzten Kriegstage und den Einzug der Russen miterlebt hatten, jüngst aus ihren Erinnerungen. Laut Paul hatte sich auf der Ostseite der Inselstadt eine deutsche Kompanie eingegraben. Fünf Soldaten hatten im Haus seiner Eltern Quartier genommen. „Wenn sie den Kampf aufgenommen hätten, wäre Werder platt gemacht worden“, ist sich der Zeitzeuge sicher. Sie warfen jedoch ihre Waffen ins Wasser, vergruben ihre Uniformen und erhielten Zivilkleidung. So entgingen sie dem Tode oder der Gefangenschaft. Günther Paul schlussfolgert aus später gefundenem Kartenmaterial, dass die Soldaten aus südwestlicher Richtung gekommen und Angehörige der aufgeriebenen Armee Wenck waren.

Wie Karl Diedloff berichtet, standen die Russen Ende April bereits am Ostufer der Havel in Wildpark-West. Baumgarten-, Streng- und Eisenbahnbrücke waren gesprengt worden, um ihren Vormarsch zu verzögern. Wahrscheinlich traf der Stadtkommandant die Entscheidung, Werder kampflos zu übergeben. Sein Name ist bis heute nicht bekannt.

Sicher ist indes, dass der Arzt Dr. Hans Bamberg und der Zahnarzt Dr. Erwin Velten als Parlamentäre mit weißen Schärpen und Fahnen in einem Kahn hinüber zu den Russen gerudert sind. Am Nachmittag des 3. Mai rollten die ersten Panzer ins Stadtgebiet ein, schwenkten aber nach Glindow ab. Es folgte eine motorisierte Einheit, die wahrscheinlich über die Übergabe der Lazarette verhandelte. Diese befanden sich auf der Bismarckhöhe, in der so genannten Millionenvilla und der Schule Unter den Linden. Schließlich rückten Infanteristen mit pferdebespannten Panjewagen ein, die Geschütze zogen.

Am nächsten Tag wurden sämtliche Häuser Unter den Linden durchkämmt, danach begannen die befreiten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, eskortiert von russischen Soldaten, die Geschäfte zu plündern. Mit einer Pistole angetroffen wurde der Textilhändler Friedrich Altenkirch und daraufhin erschossen. Ein russischer Offizier zwang Anwohner, der Erschießung beizuwohnen. In einer ins Deutsche übersetzten Rede berief er sich auf das Kriegsrecht und erklärte, wenn die Wehrmacht in der Sowjetunion einen Bewohner mit einer Waffe gestellt hätte, wäre das ganze Dorf eingeäschert worden. Altenkirchs Leiche blieb in strömendem Regen bis zum nächsten Tag auf der Straße liegen.

Ein zweiter tragischer Zwischenfall hatte sich bereits vor der Übergabe der Stadt zugetragen. Ein Fischerkahn war vom gegenüber liegenden Steg aus von den Russen beschossen worden. Er konnte sich an der Fischerstraße ans Ufer retten, doch ein Insasse erlitt einen Bauchschuss, an dem er trotz sofortigen Einsatzes eines Sanitätsfahrzeuges und eines Motorradmelders, der das notwendige Benzin heranholte, verstarb. Das Bild des vor Schmerzen schreienden Mannes hat sich Günther Paul tief ins Gedächtnis gegraben.

Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, darunter die Vergewaltigung von Frauen, blieben nach dem Einmarsch der Russen nicht aus. Sämtliche Behördenangestellten wurden nach Potsdam abtransportiert, die meisten, aber nicht alle, kehrten nach einigen Tagen zurück.

Der Vorsitzende des Heimatvereins, Baldur Martin, nannte 1992 in seiner Schrift zum 675-jährigen Jubiläum Werders fünf in sowjetische Internierungslager eingelieferte Stadtbewohner, darunter den im Lager Fünfeichen verstorbenen Obstzüchter und zeitweiligen Ortsbauernführer Wilhelm Seiler jun. Wegen angeblicher Misshandlung einer sowjetischen Zwangsarbeiterin wurde Elfi Sommer-Reutter, die Witwe des Kabarettisten Otto Reutter, ins berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck verschleppt, wo sie Ende 1950 starb.

Die Rote Armee nahm die Kasernen des Fliegerhorstes in Besitz und beschlagnahmte in der Fliegersiedlung/Brunhildestraße, am Plantagenplatz, auf der Insel und in der Eisenbahnstraße zahlreiche Häuser, deren Bewohner ihr Hab und Gut zurücklassen mussten.

Die Zeitzeugen sind sich aber einig, dass die Übergriffe der Besatzer in Werder nicht jenes erschreckende Ausmaß annahmen wie in anderen Orten. Dazu mag die kampflose Übergabe der Stadt beigetragen haben.

Wer aber war jener Stadtkommandant, der die Einwohner anwies, Waffen, aber auch die Obstweinvorräte zu vernichten, weiße Fahnen herauszuhängen, die Fenster zu schließen, die Wohnungen nicht zu verlassen und dann die beiden Parlamentäre den Russen entgegen schickte? In Frage gekommen wäre der Kommandant der vom Fliegerhorst verbliebenen Flugschule. Der Werderaner Balthasar D. Otto führte in seiner Broschüre „Das Brautkleid war aus Fallschirmseide“ zur Geschichte des Fliegerhorstes die Kommandeure nur bis zum Jahr 1943 an. Eine Internetrecherche ergab, dass ihnen ab April 1944 ein Major Josef Standhartner folgte. Doch beim Einmarsch der Russen waren der Fliegerhorst bzw. die verbliebene Luftkriegsschule 3 (LKS 3) bereits aufgegeben und verlassen worden. Zudem müsste der Kommandeur die Uniform der Luftwaffe getragen haben. Günther Paul erinnert sich jedoch, dass ihm ein Wehrmachtsoffizier als „Kommandant von Werder“ vorgestellt wurde. Dieser hatte mit seinem Adjutanten und Sohn, der im Krieg einen Arm verloren hatte, die Familie Paul aufgesucht, die der gegen den Nationalsozialismus gerichteten Bekennenden Kirche (PNN berichteten) angehörte. Der Offizier, an dessen Namen sich Paul nicht erinnern kann, sei im Zivilberuf Pfarrer gewesen und habe ein Gebet gesprochen, dass „dieser schreckliche Krieg endlich ein Ende nehmen möge“.

Ranghöchster Offizier und damit Stadtkommandant könnte jedoch auch der Chef der damals in Werder untergebrachten Lazarette gewesen sein, meint der Geschäftsführer des Heimatvereins und Militärhistoriker Klaus Froh. Bei ihren Recherchen stießen die PNN auf den heute in Potsdam wohnenden Journalisten Günther Heinze, der als Schüler ebenfalls das Kriegsende in Werder miterlebte. Er ist der Ansicht, dass der bereits als Parlamentär erwähnte Dr. Hans Bamberg, der in der Potsdamer Straße eine Praxis betrieb, gleichzeitig Lazarettchef und auch der Stadtkommandant gewesen sei. Dies halten andere Zeitzeugen allerdings für unwahrscheinlich. Heinze hat den Arzt aber des Öfteren in Wehrmachtsuniform durch die Stadt reiten oder in der Kutsche zum Bahnhof fahren sehen und ist auch von ihm behandelt worden.

Ebenso wie der unbekannte Stadtkommandant haben die Parlamentäre Hans Bamberg und Erwin Velten, denen die kampflose Übergabe Werders zu verdanken ist, in der Stadtgeschichtsschreibung bisher keinerlei Erwähnung, geschweige denn Würdigung erfahren. Weil der Kommandant kein kommunistischer Widerstandskämpfer, sondern ein Wehrmachtsoffizier war? Dies verneint Klaus Froh als Militärhistoriker mit dem Hinweis, dass ja auch Rudolf Petershagen, der Greifswald kampflos übergab, Oberst der Wehrmacht war. Dennoch wurde er in der DDR als „Retter von Greifswald“ gefeiert und hoch geehrt. Nach Frohs Ansicht haben die Eroberung Potsdams und die erbitterten Kämpfe in den Wäldern um Ferch, Neuseddin oder Beelitz die vergleichsweise undramatischen Ereignisse in Werder in den Hintergrund treten lassen.

Werders dienstältestem Heimathistoriker Baldur Martin war in der DDR-Zeit indes signalisiert worden, an der Aufarbeitung dieses Kapitels der Stadtgeschichte bestehe kein Interesse. Er vermutet, dass unliebsame Geschehnisse nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Martin weist darauf hin, dass nahezu alle Werder betreffenden Dokumente über das Kriegsende 1945 und die unmittelbare Nachkriegszeit verloren gegangen sind.

Nun will der Werderaner Heimatverein mit Hilfe der Zeitzeugen die wohl letzte Gelegenheit nutzen, ein wichtiges Kapitel der Werderaner Zeitgeschichte aufzuarbeiten.

Erhart Hohenstein

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