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Von Henry Klix: Stichtag 7. Oktober

In Werder wurde die erste Dokumentation zum „Havelländischen Obstanbaugebiet“ der DDR vorgelegt

Stand:

Werder (Havel) - Aus Lizenzgründen durfte er nicht „Golden Delicious“ heißen, deshalb wurde das Kernprodukt aus dem Havelländischen Obstanbaugebiet in „Gelber Köstlicher“ übersetzt. Im DDR-Handel war er dann weder gelb noch köstlich, so folgte die zweite Umbenennung durch angesäuerte Kunden von HO und Konsum: „Grüner Grässlicher“. Schuld an dieser Verirrung des kollektivierten Obstbaus, sagt Professor Ernst Greulich, waren nicht die Obstgärtner und GPG-Direktoren im Werderaner Anbaugebiet, sondern Funktionäre der SED-Bezirksverwaltung: Ungeachtet der Erntefenster mussten die Äpfel bis zum 7. Oktober, dem Jahrestag der DDR, abgeerntet sein, damit die Parteiführung zum „Tag der Republik“ die Produktionserfolge feiern konnte. An sich beginnt da erst die zweiwöchige Erntezeit.

Ernst Greulich (74) hat eine Dokumentation über den Obstbau im „Havelländischen Obstanbaugebiet“ vorgelegt. Den 130. Geburtstag des Werderschen Obst- und Gartenbauvereins nahm Greulich, letzter Leiter der 1992 geschlossenen „Ingenieurschule für Gartenbau“ in Werder, zum Anlass, dieses unbeschriebene Blatt Geschichte auf 130 Seiten zu füllen – wobei er weitgehend auf die ideologische Perspektive verzichtete.

Bis zur Wende wurden im Korridor westlich von Potsdam zwischen Ketzin, Lehnin und Brandenburg auf 100 Millionen Quadratmetern Obst und Gemüse angebaut, 70 Prozent davon Äpfel. Zum Vergleich: Die Obstanbaufläche im Land Brandenburg beträgt heute weniger als ein Drittel davon. Bei allen Fragezeichen, die gegenwärtig hinter die industrielle Pflanzenproduktion gesetzt werden, müssen die Leistungen des Berufsstandes, der Bürger von Rostock bis Karl-Marx-Stadt mit Obst und Gemüse versorgte, gewürdigt werden, meint Greulich.

Seit 1963 hatte nach einem Beschluss des Politbüros die Aufpflanzung begonnen. Die zersplitterten Kleinparzellen mit ihren oft veralteten Beständen wurden in Gärtnerische und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften – GPGen und LPGen – zusammengefasst und erweitert, wobei die damit verbundenen Härten noch zu dokumentieren wären.

Die Genossenschaften hießen „Frühling“, „Pomona“ oder „Blütenstadt“ – und hatten alle Details durchdacht. Die „Werdersche Obsthecke“ machte Leitern bei der Apfelernte überflüssig. Kein Apfeltransport sollte länger als 15 Minuten vor der Lagerhalle warten – das bei Erntemengen, die zum Beispiel in der LPG Dahmsdorf täglich 1000 Tonnen betrugen. Alle Flächen konnten beregnet werden. Zur Bodenverbesserung kam Seeschlamm zum Einsatz. Zur Bestäubung war jeder Hektar mit vier bis fünf Bienenvölkern bestückt. Kaltnebelgeräte bekämpften Kirschfruchtfliegen, durch Hubschrauber wurde bei der Mehltaubekämpfung Pflanzenschutzmittel gespart. Nicht zuletzt halfen „Kleincomputer“ , die die Witterung erfassten, den besten Zeitpunkt für Bekämpfungsmittel zu bestimmen. Im Jahr 1989 kamen 29 000 Erntehelfer zum Einsatz – Schüler und Studenten wurden rekrutiert, wobei auch gutes Geld verdient werden konnte. Die Auffangmaschine für Sauerkirschen erntete derweil 80 Bäume pro Stunde, zehnmal soviel wie ein Erntehelfer. Solange kein Funktionär dazwischenfunkte und keine Maschine streikte – was beides vorkam – funktionierte der Betrieb recht ordentlich.

Im Werderaner Obstbaumuseum sollen die von Greulich freigelegten Dokumente jetzt eingebunden werden. Immer wieder sei dort nach diesem Geschichtskapitel gefragt worden, sagt Werders 1. Beigeordneter Hartmut Schröder. Die Wende verwischte fast alle Spuren: Viele aus heutiger Sicht auch wertvolle Anbaufflächen fielen bei EU-Rodungsprämien von 8300 D-Mark pro Hektar der Axt zum Opfer.

Manche Anekdote ist noch ungeschrieben, „aber einer musste ja mal anfangen“, sagt Greulich. So wurde bei der Jubiläumsfeier des Obstbauvereins von ganzen Tomatenladungen erzählt, die in der Eisenbahnstraße in Werder „vor sich hinsuppten“, weil Zugmaschinen defekt waren. Oder von den Plötziner Tulpen für den Export – die Kartons waren mit „Herkunftsland: Holland“ beschriftet. Laut Greulichs Dokumentation waren eine Million Schnitt-Tulpen für den Frauentag bestimmt. Noch eine offene Frage: Wo sind die geblieben? Greulich hat bereits eine Fortsetzung versprochen.

Die Dokumentation im Internet:

www.lenne-akademie.de (forum)

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