Potsdam-Mittelmark: Verheißung am Rande Berlins Christa Kozik erinnert an
Kindheit in Stahnsdorf
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Kleinmachnow - Berlin, das klang wie große Verheißung, auch wenn Stahnsdorf nur am Rande der Metropole lag. Christa Kozik war zwölf Jahre alt, als sie 1953 mit Mutter und Hund Waldi aus einem Dorf in Thüringen nach Stahnsdorf zog. Die bekannte Autorin las am Donnerstag in der Kleinmachnower Gemeindebibliothek aus ihren autobiografischen Erzählungen „Mädchen aus Randberlin“ und „Kindheit in der DDR“.
Damals war der S-Bahnhof am Friedhof das Tor zur großen Stadt, in die der Zug eine halbe Stunde brauchte. Ihre Thüringer Freundinnen hatten sie darum beneidet, doch im neuen Zuhause erfährt sie erst einmal einige Dämpfer. Schon die Ankunft in Berlin gerät zur Zerreißprobe. Mit Federbett, Radio und etlichen Bündeln stehen sie auf dem Bahnsteig Friedrichstraße und sind sogleich im Visier der Bahnpolizei. Da sie keine Zuzugsgenehmigung vorweisen können, müssen sie einen Tag und eine Nacht in der Bahnhofsmission verbringen, ehe sie endlich weiterfahren können zu Onkel Gustav in die Beethovenstraße.
Der Onkel wird bald zum Pflegefall, um den sich Mutter und Tochter abwechselnd kümmern. Auch die ersten Schultage sind für die Zwölfjährige schwer, mit ihrem Thüringer Dialekt erntet sie stets Gelächter. Aber sie findet eine Freundin, Renate, die mit ihr auf dem Schulweg das Hochdeutsche paukt und dann auch Johanna, die ihr die schönsten Ecken des Ortes zeigt. Beide ehemalige Schulfreundinnen sind zur Lesung gekommen, ihre Augen glänzen, als die Autorin durch gemeinsame Erinnerungen streift. Ganz oben auf der Beliebtheitsskala standen seinerzeit kulinarische Köstlichkeiten wie Bockwurst und Schweineohren.
Doch als der Onkel stirbt, ist die Kinderzeit vorbei. „Mit dem Sterben des alten Mannes, der für mich ein Vaterersatz war, endete auch meine Kindheit.“ Als Zweijährige hatte sie ihren Vater verloren. Früheste Erinnerungen sind kalte Bahnhöfe, Sirenengeheul und Betten im Keller. Mit Mutter und Schwester war sie in den letzten Kriegstagen aus Oberschlesien nach Thüringen geflohen, da war sie vier, weiß aber noch, wie die Schwester sagte: „Der Krieg hat blutige Augen.“ Oft sahen sie Tote und die kleine Christa war überzeugt: „Das ist nur ein Spiel der Erwachsenen, die Toten stehen bald wieder auf.“ Die Erwachsenen schwiegen. „Doch das Schweigen hat die Angst der Kinder verdoppelt“, sagt Christa Kozik.
So hat sich ihr wohl eingeprägt, dass der Tod ohne Sprache ist – eine schwere Last. Um sie loszuwerden, beginnt sie mit dem Schreiben. Später im Potsdamer Schreibzirkel ermuntert sie der Schriftsteller Franz Fabian: „Christa, du schreibst so traurig, mach mal was Optimistisches!“ Mehr aus Trotz rattert sie ein Gedicht hin, eine Eloge: „Ihr Mädchen von 17 und älter“. Viele Zeitungen drucken es ab, sogar Lotte Ulbricht bekommt ein handgeschriebenes Exemplar zum 70. Geburtstag. Die junge Lyrikerin verwirrte das alles mehr, als dass es sie freute. So gefällig wollte sie nicht sein. Das bewies sie später auch als Autorin vieler Kinderbücher („Moritz in der Litfaßsäule“) und als Dramaturgin mehrerer Spielfilme, darunter der Defa-Klassiker „Sieben Sommersprossen“, der ehrlich, sensibel und ohne falsche Scham Probleme Jugendlicher behandelte und dabei gleich mehrere Tabus brach. Kirsten Graulich
Kirsten Graulich
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