KulTOUR: Völlig anderer Kosmos Anke Mühligs Werk zur Demenz ihrer Mutter
Kleinmachnow - Jeder Störfall ändert die Gewohnheit. Nach seinem Wesen stört er das mutmaßliche Kontinuum des Lebens, bringt wirbelnd alles durcheinander.
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Kleinmachnow - Jeder Störfall ändert die Gewohnheit. Nach seinem Wesen stört er das mutmaßliche Kontinuum des Lebens, bringt wirbelnd alles durcheinander. So manch politisch-militärisches Husarenstück geht da auf seine Kappe, der Treubruch des geliebten Partners, ein Schicksalshieb, schwere Krankheit, jäher Tod. Wie bunt die Welt in solchem Grau dann noch sein kann, hängt von vielem ab, manchmal ist sie dann nur noch minutenbunt. „Minutenbunt“ hat die Kleinmachnower Textilkünstlerin Anke Mühlig auch ein Buch genannt, das sich mit der fortschreitenden Altersdemenz ihrer Mutter Helene beschäftigt. Ein eindringliches, sehr sensibles Werk.
Schon die formale Konzeption weist auf den völlig anderen Kosmos dieser Krankheit hin: Nach der Lektüre der einen Hälfte muss man es um hundertachtzig Grad drehen, und fängt dergestalt wie noch einmal von vorne an. Nach dem Willen der Autorin soll man durch diesen drucktechnischen Kabolz begreifen, wie relativ unsere Ordnungen sind.
Und das sind sie in der Tat, wenn das große Vergessen beginnt: Briefe werden mit falschen Adressen versehen, nahe Angehörige nicht mehr erkannt. Nach unbekannten Regeln wechseln sich urplötzlich dunkle mit hellen Momenten ab, graue mit bunten. Das physische Sein ist von diesem Störfall nicht betroffen.
Obwohl Mutter und Tochter einander so nahe sind, leben sie doch in völlig unterschiedlichen Koordinatengefügen, in Parallelwelten. Welche stimmt nun, welche ist falsch, oder wie wirklich ist die Wirklichkeit überhaupt? Was dem „normalen“ Menschen bald ein Übermaß an Liebe, Kraft und Geduld abverlangt, ist ein Glücksfall für die Kunst, auch sie ist ja eine autarke Welt, ein Parallel-Universum zum Hier.
Die 1957 geborene Berlinerin hat ihr Handwerkszeug in den Staaten, in Schweden und in Berlin erlernt, Textilgestaltung, Seidenmalerei, Keramik, dazu Kunstgeschichte. Seit 1996 betreibt sie in Kleinmachnow ihr Atelier Kokonen, was ein bisschen finnochinesisch klingt. Hiesige kennen ihre meist hochsensiblen Arbeiten aus Einzelausstellungen oder als feste Säule der Gruppe ArtEvent.
In „kunterbunt“ ist sie neben ihrer Mutter, die sie nur beim Vornamen anspricht, selbst als Tochter, als federführende Co-Autorin beteiligt. Das Buch beschreibt auf drei Ebenen Anke Mühligs Umgang mit der verwirrenden Krankheit und mit sich selbst. Einmal sind es die Tageserlebnisse bis zum Tod der 79-Jährigen, zweitens ist es der Versuch, sich in Gestalt von Gedichten und Reflexionen über das schwer zu Fassende klarzuwerden, welches auch sie ja verwirrt. Aber sie hat ja die Kunst, und diese hilft, das Ungreifbare im Wortsinn dingfest zu machen.
So zeigt das hochformatige wie hochkarätige Buch gleich zu Anfang eine Relief-Arbeit aus Baumwolljersey und Seidenorganza, darauf das verhängnisvolle Wort „Demenz“ mehrfach appliziert ist, während Hände nur ins Leere greifen. Allerdings sind die Buchstaben ganz schön durcheinandergeraten, genau wie das Leben von Mutter und Tochter: Minutenbund – minutenbunt. Man findet Fotos (Nils Chudy) von Applikationen, auf Stoffbahn gebannte Kalligrafien, Montagen, Gesticktes, Genähtes, Gefärbtes, alles zum Thema Mutter und Tochter im aktuellen Gefüge.
Ein Doppelporträt, eine gedoppelte Biografie aus Worten und Bildern, mal mehr im Grau, mal voll schöner Farben. Die eine lebt auf dem Zeitstrahl, die andere mehr ohne Zeit, manchmal Ewigkeit genannt. Eine sehr anspruchsvolle Lektüre, eine Empfehlung, mit Dank. Gerold Paul
Gerold Paul
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