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80 Zentimeter lang ist der Pinsel, den Thomas Kahlau verwendet. So viel muss schon sein – der Perspektive wegen, sagt der Künstler aus Caputh.

© Thilo Rückeis

Künstler aus Caputh malt mit dem Mund: Widerborstig

Jetzt sind sie wieder unverlangt ins Haus geflattert. Mit dem Mund oder Fuß gemalte Postkarten von Künstlern wie Thomas Kahlau aus Caputh. Der kann davon leben und will nur eines nicht: Mitleid.

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Caputh - Angefangen hat es Weihnachten. Mit einer Karte in der Grußpost. Vorne drauf der Gendarmenmarkt in Berlin. Gefüllt mit Buden, mit Menschen, mit klassizistischen Säulen. Eine Adventsszenerie in flüssigem Gold, im Vordergrund akzentuiert mit den blauen Schemen von Passanten. Ein von Wärme, von Licht nur so strotzendes Motiv. Hinten drauf bedruckt mit dem Titel „Auf dem Weihnachtsmarkt“, dem Namen des Malers, der Berufsbezeichnung „Mundmaler“ und einem Logo des Verlages Mund- und Fußmalender Künstler.

Ostern wurden wieder viele solcher Karten verschickt. Die Urheberschaft weckt Erinnerungen, Assoziationen: an Witzeleien im Kunstunterricht, als sich Schüler gegenseitig anfrotzelten, ob das merkwürdigeWerk da wohl mit dem Fuß gekritzelt sei, an karitative Organisationen für Kriegsbeschädigte, die ungefähr so heutig klingen wie der „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ und ein bisschen auch an Zirkus, an Freakshow, an das Zurschaustellen von Fertigkeiten trotz körperlicher Handicaps. Nur eine Postkarte von vorne und hinten betrachtet und so viel Rummel im Kopf. Was bringt einen Menschen, der seine Hände nicht gebrauchen kann, ausgerechnet dazu, Bilder zu malen? Und was für eine Organisation ist die Vereinigung der Fuß- und Mundmalenden Künstler?

Kein Wohltätigkeitsverein: Mund- und Fußmaler sind eine kommerzielle Organisation

Ein Gespräch mit Florian Stegmann, dem Enkel des Gründers der in Liechtenstein ansässigen Organisation, schafft da schnell Klarheit: die Mund- und Fußmaler sind eine kommerzielle, im Gegensatz zu den Postkartensendungen von Unicef oder SOS-Kinderdörfern eben nicht karitative Organisation. „Wir sind kein Wohltätigkeitsverein, sondern eine Selbsthilfe-Organisation“, sagt der 51 Jahre alte Bankkaufmann. Ihn persönlich zu erwischen ist schwierig. Stegmann ist dauernd auf Reisen.

Die Vereinigung der Mund- und Fußmaler hat rund 800 Mitglieder und Stipendiaten in mehr als 70 Ländern der Welt. Ein Netz von Eigen- und Partnerverlagen vermarktet die Lizenzen an den Bildern der beteiligten Künstler und reproduziert sie als im Direktmarketing unverlangt zugestellte Postkartensätze, als Kalender, Regenschirme oder Puzzles.

Stegmann ist Geschäftsführer des in Stuttgart sitzenden deutschen Ablegers, eben jenes auf der Postkarte genannten Verlags der Mund- und Fußmalenden Künstler. Der Münchner lebt in St. Gallen und sitzt an diesem Märzmorgen in Portugal am Telefon, wo es auch so einen Verlag gibt. „Die Künstler behalten ihre Originale, das Reproduktionsrecht erhält die Vereinigung“, das sei die Grundidee, erläutert Stegmann. Im Gegenzug bekommen die inVollmitglieder, assoziierte Mitglieder und Stipendiaten unterteilten Maler ein monatliches Honorar, das im Falle der Vollmitgliedschaft sogar bis zum Lebensende gezahlt wird. Also auch dann, wenn der Maler mit Behinderung womöglich gar nicht mehr malen kann. Die Vereinigung wiederum organisiert sich über Mitgliederversammlungen, einen Delegiertenkonvent und den Vorstand, dessen Präsident der französische Mundmaler Serge Maudet ist, und unterhält eine Geschäftsstelle in Liechtenstein.

Auf das politisch neutrale und ökonomisch vorteilhafte Fürstentum ist 1957 Florian Stegmanns Großvater Arnulf Erich Stegmann selbst gekommen.

Motto: "Kein Mitleid!"

Der 1912 in Darmstadt geborene und 1984 in Deisenhofen bei München gestorbene Künstler ist der Ideengeber des ganzen Modells. Stegmann erkrankte im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung und konnte seither die Hände nicht mehr gebrauchen. Trotzdem absolvierte er ein Grafikstudium und Meisterklassen und vertrieb im Eigenverlag Reproduktionen seiner mit dem Mund gemalten Bilder. Die Nazis inhaftierten den Kommunisten und verfemten seine Malerei, was den stolzen, künstlerisch wie geschäftlich umtriebigen Mann nicht davon abhielt, weiterzumalen und sich nach dem Krieg alsbald um eine Interessenvertretung und Selbstvermarktung unter Gleichgesinnten zu kümmern. Eine Art von Tatkraft, für die Menschen mit Behinderung womöglich noch mehr beargwöhnt werden als Künstler. „Er war ein starker Mann, der mit den Füßen gestampft hat, wenn er was wollte. Mit der Faust auf den Tisch hauen konnte er ja nicht“, beschreibt ihn der Enkel und zitiert Opas Motto „Kein Mitleid!“.

1957 gründete Arnulf Erich Stegmann mit 17 Kollegen aus acht europäischen Ländern die Fuß-und Mundmaler-Vereinigung (VDMFK). Dass Stegmann selbst durch die Vereinigung und die angeschlossenenVerlagsgeschäfte nicht nur zum ersten professionellen Mundmaler, sondern auch zu einem wohlhabenden Mann wurde, war schon dem „Spiegel“ in den 60er-Jahren einen Artikel wert. Und bis heute ist immer mal wieder von angeblichen, nicht an die Mitglieder weitergereichten Gewinnen der Vereinigung die Rede. Stegmann, der grundsätzlich weder über Umsätze noch über Gewinne oder die Höhe der Zahlungen an Stipendiaten und Mitglieder spricht, jedenfalls sieht sich eher als Kaufmann und Kunstfreund denn als Philanthrop. „Wir sind ein Zwitter: „Wir betreiben ein Geschäft und wir sind für die Künstler da.“ Genauer gesagt verhelfen die von der Vereinigung gezahlten Honorare den Mitgliedern zu einer finanziellen Unabhängigkeit, die sie gerade in Ländern ohne üppige Sozialversicherung gut gebrauchen können.

"Ein echter Preuße"

Den Maler der Adventspostkarte kennt Florian Stegmann gut, er hat unzählige seiner Motive verlegt. „Er ist streng mit sich, malt richtig viel, ein echter Preuße mit einer tollen Familie, die immer sehr für ihn gekämpft hat.“ Thomas Kahlau lebt in Caputh. Er hat 1986 als Stipendiat in derVereinigung begonnen, wurde 2013 in den Vorstand gewählt und ist eins von zehn deutschen Mitgliedern. Er ist auch sonst recht bekannt. Eines seiner Gemälde schmückte die Kanzlei des Brandenburger Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. 1989 hat die Defa-Regisseurin Gitta Nickel eine Dokumentation mit dem Titel „Den Wind auf der Haut spüren“ über sein Leben gedreht.

„Ich bin gesund, ich kann nur nicht aufstehen“, sagt der Mundmaler, noch sehr jung, darin in die Kamera. 1992 ist im Aufbau-Verlag seine Autobiografie „Die Kraft in mir“ erschienen. Ein gut geschriebener Erfahrungsbericht von unaufdringlicher Größe. Im Jahr 2000 bekam Thomas Kahlau dann für sein soziales und künstlerisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. In einem Barackenbau im Grünen gegenüber vom Schlosspark Sanssouci in Potsdam hat Thomas Kahlau ein kleines Atelier gemietet, teils Bilderlager, teils Arbeitsraum. Zu Hause in Caputh, wo er mit den Eltern ein Einfamilienhaus bewohnt, arbeitet der 55 Jahre alte Künstler nur mit Acryl- oder Aquarellfarben. Er hat einen Assistenten, der ihm die Leinwand bespannen und die Öltube aufdrehen kann. Marco Scherbarth heißt der. Die Palette mit den geruchsintensiven Ölfarben hat er schon vorbereitet.

Scherbarth ist 37, ein schlaksiger Typ, der früher selber gemalt hat. „Aber abstrakt, nicht gegenständlich wie Thomas.“ Seit 13 Jahren ist der bei der Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus (ASBH) angestellte Altenpfleger Thomas Kahlaus Stammassistent. Und wenn der Mundmaler zu den Vorstandssitzungen der Vereinigung reist, die schon mal in Griechenland oder Mexiko stattfinden, fährt auch er manchmal mit. Die beiden flachsen herum wie ein altes Ehepaar. Fragt man den Maler, ob sein Körper sich nach Jahrzehnten im Rollstuhl noch an das Leben als Gesunder erinnert, mahnt Scherbarth prompt „er ist nicht krank“.

80 Zentimeter Abstand zum Bild

Thomas Kahlau steht, so viel ist nach der ersten halben Stunde klar, mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Nur aufstehen kann er eben nicht. Oder mit den Händen malen, die wie zwei fein gemeißelte, glatte Porzellanskulpturen auf den Lehnen seines Rollstuhls ruhen. Den Pinsel in der Karbonhalterung hält er mittels einer Beißschiene im Mund. Die hat ein ambitionierter Zahnarzt einst für ihn entwickelt. Unmöglich, der Hebelwirkung dieser 80 Zentimeter langen Vorrichtung nur mit Lippen und Zähnen Paroli zu bieten. So viel Abstand zum Bild muss schon sein, findet der Künstler. Der Perspektive und des Bewegungsradius wegen. Mit schnellen, ruckartigen Bewegungen nimmt er die Farben auf, strichelt hier, tupft dort, in fließender Bewegung. Sogar reden kann er mit dem Pinsel im Mund.

Dass Menschen zusehen, ist er gewohnt. Thomas Kahlau hat früh entschieden, sich nicht zu verstecken. Regelmäßig gibt er Workshops für Kinder, um ihnen die Scheu vor Menschen mit Behinderung zu nehmen. Mehr als 1000 Bilder hat er schon gemalt. Und auf die Frage, wie lange er an so einem Hochformat einer Allee mit Bäumen arbeitet, die vor ihm auf der Staffelei steht, sagt er: „40 Jahre. So viel Zeit habe ich gebraucht, um so malen zu können.“ Genauso lange ist in diesem Jahr auch der warme Frühsommertag her, der ihn am 26. Juni 1976 zum Maler machte. Oder zum Krüppel, wie wohl die sagen würden, die im Internet über schnorrende „Krüppelmaler“ herziehen.

Warum in aller Welt wird einer Maler, der seine Hände nicht gebrauchen kann?

In seinem Fall ist das eine nicht vom anderen zu trennen. Die Note eins hat er in der Schule immer in Kunsterziehung gehabt. „Aber als 14-jähriger Stippi, da wollte ich Bauer werden.“ Nichts da. Den 15. Geburtstag feiert er schon liegend im Krankenhaus. Nach dem unseligen Köpfer in einen Kiesteich bei Michendorf. Beim Aufprall verschieben sich zwei Halswirbel und durchtrennen das Rückenmark. Warum in aller Welt wird einer Maler, der seine Hände nicht gebrauchen kann? „Aus purer Langeweile!“ So schrecklich einfach und so schrecklich schwer ist das. In der Reha dehnte sich die Zeit wie Kaugummi. Kahlau vertrieb sie sich, indem er mit dem Mund zeichnen lernte. Als Erstes einen Kakadu. Die Familie war begeistert – und Kahlau hat seitdem nicht mehr aufgehört zu malen.

Sein Buch und der Film über ihn beschreiben den Höllenritt seines Lebens nach dem Unfall, der von Druckgeschwüren, Schmerzen, Morphiumabhängigkeit geprägten Rekonvaleszenz, die Thomas Kahlau mit Hilfe seiner nie verzagenden Familie, seines um technische Lösungen nie verlegenen Vaters überlebt hat. Der baute dem Sohn erst ein Lese- und dann ein Schreib- und Malgerät. Obwohl er nie mehr zur Schule gehen konnte, schloss er eine Ausbildung zum Japanisch-Übersetzer ab und nahm Malunterricht.

Was als Form der Lebensbewältigung begann, wird zum Lebensinhalt und letztlich Broterwerb. Seitdem er 1997 zum Vollmitglied der Vereinigung wurde, kann er von seiner Kunst gut leben, sagt er. Beziffern will er das nicht. Seine Bilder allerdings, die verkauft er für Summen von 100 bis 900 Euro. „Und das zahlen Leute nur, wenn ihnen ein Bild gefällt und nicht, weil es mit dem Mund gemalt ist.“ Der Mitleidsbonus verfliegt schnell, wenn es ans Bezahlen geht. Und der Umstand, dass Leute sich vielleicht doch mehr für die Behinderung als für die Gemälde interessieren könnten, damit hat Kahlau längst seinen Frieden gemacht. „Bilder entstehen im Kopf, in der Seele, nicht durch den Malprozess.“ Kein Bild gerate so wie die Vorstellung davon, aber der Weg vom Gehirn zum Pinsel, der sei in der Mundmalerei kürzer als in der Handmalerei.

Wie ein König

Die Szenerie am Gendarmenmarkt, die hat er nicht direkt vor Ort gemalt. Menschenmengen sind nichts für Rollstuhlfahrer. Erst recht nicht vor einer Staffelei. Er und sein Assistent bannen die Motive erst auf ein Foto und davon ausgehend abstrahiert Thomas Kahlau dann das Bild. Reine Imagination ist nicht sein Ding. „Die Welt ist was für Realisten.“ Das muss wohl einer sagen, der fast rund um die Uhr Betreuung braucht. Gelb und Blau, seine Lieblingsfarben, die sind satt vertreten. Royalblau, das klinge schon so schön königlich. „Und ich sitze ja wie ein kleiner König in meinem Thron.“

Da ist kein Hadern. Auch wenn ihn die Abhängigkeit von der Hilfe der anderen über die Jahrzehnte am meisten gequält hat. „Ich bin ein relativ glücklicher Mensch“, sagt Thomas Kahlau, ein hoffnungsloser Optimist. Kann gut sein, dass viele seiner Bilder deswegen so leuchten.

Angefangen hat es Weihnachten und jetzt, jetzt ist Ostern vorbei. Am vergangenen Dienstag wurde die Frühjahrssendung in deutsche Briefkästen gespült. Eine sechsstellige Zahl von Postkartensätzen, unverlangt versandt. Weniger als die Hälfte der Sendungen wird mittels der auf 12,45 Euro ausgestellten Überweisung tatsächlich bezahlt. Die Motive sind bunt und lieblich.

Dabei liegt auch ein etwas krakeliger Brief der Fußmalerin Antje Kratz aus Frankfurt am Main, einer Contergan-Geschädigten. Die Menschen sehen die Frau, die Vögel, die Blumen. Sie werden sich angesprochen oder abgezockt fühlen, Mitleid haben oder es für „Kitsch“ halten. Das ist in Ordnung. So wie es in Ordnung ist, der Maler des eigenen Schicksals zu sein.

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