Von Tobias Reichelt: Zurück ins alte Leben
Die Teltowerin Jacqueline Lehmann half auf einem Hospitalschiff vor der Küste Westafrikas
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Teltow - Zerfallene und zerschossene Gebäude, Straßen, auf denen kaum Autos fahren können, Menschen, die in wackeligen Blechhütten leben, Kinder, die mit Plastikmüll spielen inmitten der atemberaubenden Tropenlandschaft Westafrikas. „Dass es so etwas gibt, konnte ich mir nicht vorstellen“, sagt Jacqueline Lehmann und zeigt ein Foto ihrer Reise nach Monrovia, der Hauptstadt Liberias. Vier Wochen lang arbeitete die junge Teltower Medizinstudentin im vergangenen Jahr auf dem Krankenhausschiff „African Mercy“, dem größten karitativen Hospitalschiff der Welt, in einem Land, das vom 14-jährigen Bürgerkrieg gezeichnet ist.
Gerade zum Jahresende, erzählt Jacqueline Lehmann, wenn die Festtagsbraten in Deutschland verdaut werden und sich der Müll der abgebrannten Silvesterraketen auf den heimischen Straßen sammelt, denke sie mit gemischten Gefühlen an das zurück, was sie während ihres Praktikums im Herbst erlebt hat. Dabei fing alles anders an, als sie geplant hatte.
Im Fernsehen hatte die 22-jährige Studentin der Göttinger Georg August-Universität eine Dokumentation zur Arbeit auf den Krankenhausschiffen der Hilfsorganisation „Mercy Ships“ gesehen. Hier bieten Ärzte aus aller Welt ihre freiwilligen Hilfsdienste an. „Ich dachte mir, ich müsste auch etwas nützliches in den Ferien machen“, sagt Jacqueline Lehmann. Schon einen Monat, nachdem sie sich als Operationsassistentin beworben hatte, bekam sie eine Zusage. Ungewöhnlich schnell, aber nicht ohne Haken, wie sich am Anreisetag herausstellte: „Ich wollte Menschen medizinisch versorgen, dann musste ich Kaffee im schiffseigenen Laden verkaufen“, erzählt sie. Wie in einer Kleinstadt gibt es auf dem Hilfsschiffs auch Läden, eine Post, ein Bank und sogar Schule und Kindergarten für die Angehörigen der 440 Mann starken Besatzung.
„Ich hatte aber sehr flexible Arbeitszeiten, und Hilfe wird auf dem Schiff überall benötigt“, erzählt Jaqueline Lehmann. In Mittagspausen und an freien Tagen assistierte sie bei Operationen oder begleitete Entwicklungshelfer bei ihren Fahrten ins Hinterland. Die vier Wochen auf dem Schiff haben Jacqueline Lehmann verändert: „Es beschäftigt einen sehr, das Gesehene zu verarbeiten“, sagt sie heute.
Bei einem Besuch in einem Gefängnis, sprach sie mit einer Frau, die ihren Mann mit einer Anderen erwischt hatte. „Sie hatte ihm eine Flasche über den Kopf geschlagen.“ Mathe und Englisch wollte sie studieren. „17 Jahre muss sie im Gefängnis bleiben“, sagt Jacqueline Lehmann und kommt ins Stocken, die Begegnung bedrückt sie immer noch. Eine bessere Zukunft wünscht sich diese junge Afrikanerin nun für ihre Tochter. „Die Menschen dort sind mit ganz anderen Problemen konfrontiert, als wir sie hier wahrnehmen – wir denken über neue Pullover nach, sie fragen sich, wie sie überleben sollen.“
Schon nach wenigen Tagen an Bord nutzte die Teltowerin jede Möglichkeit, um in einen der sechs Operationssäle des Schiffes zu assistieren oder mit den Helfern unterwegs zu sein und in Kinderheime zu fahren. „So gesehen war es ein günstiger Schicksalsschlag“, berichtet sie von ihrer nicht geplanten Beschäftigung in dem Kaffeeladen.
„Vieles erwartet man nicht, bis man es wirklich gesehen hat“, sagt Jacqueline Lehmann. Sie erzählt von Gesichtstumoren so groß wie Fußbälle und hautzerfressenden Viruserkrankungen, die auf dem Schiff behandelt wurden. „Man weiß vorher, dass es so etwas gibt, aber da musste ich schlucken.“ Viele Krankheiten, die in Europa mit sauberem Wasser, Antibiotika oder regelmäßigen Arztbesuchen zu bekämpfen wären, sind in Afrika tödlich. Auf 50 000 Liberianer kommt hier gerade ein Arzt. Jedes Hilfsschiff und jeder freiwilliger Helfer werden dringend benötigt, sagt Jacqueline Lehmann.
Ja, es mache ihr ein schlechtes Gewissen, nach ihrer Reise wieder dort weiterzumachen, wo sie vor den vier Wochen aufgehört hatte. Sie habe sich verändert, aber nicht das Leben, das sie zurückgelassen hatte. In einigen Jahren will Jacqueline Lehmann ihr Studium zum Facharzt beenden. Spätestens dann will sie wieder auf einem der Hilfsschiffe arbeiten.
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