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© Getty Images/iStockphoto/ysuel

Schief gewickelt : Wie Eltern bei den Windeln Müll vermeiden können

Drei Milliarden Windeln werden in Deutschland jährlich weggeworfen. Viele Eltern fragen sich, ob es nachhaltigere Modelle gibt - oder ob es ganz ohne geht

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Die meisten können sich es sich vor der Geburt ihres ersten Kindes nicht vorstellen: Was beim Baby hinten rauskommt, ist bei jungen Eltern ein heißes Thema. Vor allem fragen sich viele, wie man es in Zeiten des Klimawandels nachhaltig entsorgt. Viele werden wohl online nach Informationen suchen - und Beunruhigendes finden, etwa dass in Deutschland drei Milliarden Wegwerfwindeln pro Jahr im Müll landen und dass ein Kind durchschnittlich rund 6000 Windeln verbraucht, bis es trocken ist. Über die Müllberge, die durch Plastikwindeln entstehen, kann niemand hinwegsehen.

Laut der Naturschutzorganisation BUND liegt ihr Anteil am Müllaufkommen in manchen deutschen Städten bei zehn Prozent. Auch bei der Herstellung verbrauchen Plastikwindeln viele Ressourcen. Für den saugstarken Zellstoff werden große Mengen Holz gefällt. Bei der Verarbeitung kommen hohe Mengen von Wasser, Energie und Chemikalien ebenfalls zum Einsatz.

„Wussten Sie, dass ein zweijähriges westeuropäisches Durchschnittskind, das in Wegwerfwindeln aufgewachsen ist, bereits genauso viel CO2 verbraucht hat wie der Durchschnittsbewohner Tansanias in seinem ganzen Leben?“, heißt es auf der Internetseite abhala.de, auf der eine Brandenburgerin online spezielle Kinderkleidung verkauft für Babys, die ohne Windeln aufwachsen. „Windelfrei„ nennt sich die Methode, die wir unten vorstellen. Sie ist eine von mehreren Alternativen, die Eltern zu konventionellen Wegwerfwindeln haben.

BAUMWOLLE, HANF UND BAMBUS

Die Nachfrage nach Windeln ohne Plastik anteil nimmt stetig zu, so empfindet es zumindest Patricia Taterra, die in ihrem Laden „Hug & Grow“ in der Moabiter Kirchstraße Stoffwindeln unterschiedlicher Marken verkauft. Und das sind nicht einfach nur weiße Baumwolltücher, so wie man sie von früher kennt. Mittlerweile gibt es für Stoffwindeln die unterschiedlichsten Systeme, aus freundlich designten Stoffen. Beliebt sei zum Beispiel das „All-in-Two-Konzept“, erklärt Windelexpertin Taterra: Dazu gehören farbenfrohe Außenhöschen aus einem wasserdichten Stoff, plus einer Innenwindel, die in der Regel aus Baumwolle oder Strick ist. Zusätzlich kann eine spezielle Saugeinlage, zum Beispiel aus Baumwolle, Hanf oder Bambus in die Windel gelegt werden. Andererseits gibt es auch Systeme, für die keine extra Innenwindel benötigt wird. Wen diese Auswahl überfordert, der kann ein Seminar bei einer Stoffwindelberaterin besuchen. Angeboten werden diese Kurse beispielsweise in Babyläden für nachhaltige Kinderkleidung, wie dem „Hug & Grow“ oder auch bei „Kurz und Klein“ in Neukölln.

In der Handhabung unterscheiden sich die Stoffwindeln nicht sonderlich von den Einwegwindeln, nur dass man sie häufiger wechseln muss, weil sie weniger saugfähig sind, und sie alle zwei bis drei Tage selber gewaschen werden müssen. Es gibt drei Gründe, weshalb sich ihre Kunden für diese alternative Wickelmethode entschieden, erklärt Taterra: „Stoffwindeln sind kostengünstiger, ökologischer und verträglicher für die Haut“. Ob das alles tatsächlich so stimmt, darüber gibt es immer wieder Diskussionen. Ein Kostenvergleich auf der Internetseite der www.windelmanufaktur.com zeigt jedenfalls, dass Eltern etwa 750 Euro sparen, wenn sie ihr Kind ausschließlich mit Stoff- und nicht mit Plastikwindeln wickeln. Etwa 5293 Windeln verbraucht nach dieser Rechnung ein Kind in seinen ersten drei Lebensjahren, rund 1256 Euro fallen in dieser Zeit für gewöhnliche Wegwerfwindeln an, etwa 500 Euro kosten die Stoffwindeln für die gleiche Zeitspanne. Doch der Preis sei nicht das Hauptargument, weshalb viele Nutzer auf Stoffwindeln zurückgriffen, sagt Taterra. „Viele Eltern möchten einfach nicht, dass ihr Kind den ganzen Tag in Plastik eingehüllt ist“. Herkömmliche Wegwerfwindeln bestehen aus Kunststoff (Polyethylen). Angereichert werden sie mit chemischen Substanzen, zum Beispiel Polymersalzen, weshalb sie so besonders saugfähig sind. Allerdings sind sie deshalb wenig atmungsaktiv, die Babyhaut wird dadurch leicht schwitzig und manche Kinder bekommen einen wunden Po, Hautausschlag oder Pilze.

Noch wichtiger sei jedoch für die meisten Kunden der Umweltschutz, sagt Taterra. Hier gab es allerdings in den letzten Jahren eine große Verunsicherung, da eine häufig zitierte britische Studie aus dem Jahr 2005 gezeigt hatte, dass die Ökobilanz von Windeln mit der von Wegwerfwindeln gleich aufliege. Argumentiert wurde mit dem hohen Energie- und Wasserverbrauch, den man zum Waschen der Stoffwindeln brauche.

Umweltschützer widersprechen dieser Studie allerdings strikt, da es hier vor allem auf das Nutzerverhalten ankomme. „Wer die Windeln mit 90 Grad wäscht und dazu einen Wäschetrockner benutzt, ist selber schuld“, sagt Taterra. 60 Grad seien ausreichend. Aus ökologischer Sicht spricht fast alles für die Nutzung von Stoffwindeln. Am Ende müssen Eltern beurteilen, was für sie praktikabel ist. „Manche entscheiden sich auch für eine Zwischenlösung“, sagt Taterra. Die benutzen dann tagsüber Stoffwindeln und nehmen für nachts oder manche auch für unterwegs eine Wegwerfwindel. Es auszuprobieren, schade jedenfalls nicht.

PROTESTWINDELN

Als Kathrin und Dominic Franck mit ihren zwei Kindern 2014 aus einer Pankower Wohnung in ein Haus nach Brandenburg zogen, hatten sie auf einmal eine Mülltonne statt eines Müllschluckers - und sahen plötzlich, wie schnell sich die mit Windeln füllte. „Wir staunten, dass die Windeln zwei Drittel unseres gesamten Abfalls ausmachten“, sagt Katrin Franck. Das Paar begann sich mit dem Thema zu beschäftigen. Sie lasen, dass eine herkömmliche Windel zu 70 bis knapp 100 Prozent aus Plastik besteht. „Mir persönlich hat es Angst gemacht, was an chemischen Stoffen in einer Windel drin ist. Man reißt die Packung auf und denkt boah, das stinkt nach Chemie“, sagt Katrin Frank. „Auch Ökowindeln nutzen ein Erdölgranulat, um die Flüssigkeit zu aufzusaugen. Das ist umwelttechnisch als auch gesundheitlich zwiespältig.“ Ihr Mann, Dominic Frank, ist Chemiker. Er begann in der Küche zu tüfteln: Was für Materialien außer Erdöl eigneten sich, um Urin zu binden? „Er hat statt Urin Kochsalzlösung zum Ausprobieren verwendet“, sagt Katrin Franck lachend. Dem Chemiker gelang es tatsächlich: Er entwickelte „die erste Windel, die ohne Erdölgranulat auskommt“. Zum Aufsaugen wird ein Gel aus Kartoffelstärke (in Brandenburg angebaut) verwendet. Die Folie außen herum besteht aus Mais- und Kartoffelstärke. „Die erste Prototyp-Testwindel haben wir Anfang Dezember 2015 produziert. Unsere Tochter machte aus den zwei Wörtern ,Prototyp’ und ,Testwindel’ eine Protestwindel.“ Offiziell wird sie „Fairwindel“ getauft .

Seit 2016 verkaufen die Francks die Windeln in einem Online-Shop (fairwindel.de). Dominic Franck hat das Projekt zu seinem Hauptberuf gemacht. Die Klettverschlüsse und Gummibänder der Windel sind allerdings noch aus konventionellem Kunststoff. Damit sind die beiden noch nicht zufrieden: „Unsere Vision ist die kompostierbare Windel aus komplett nachwachsenden Rohstoffen anzubieten, damit keine Plastikteile übrig bleiben.“ In die Biotonne dürfe die Windel allerdings auch dann nicht. Und selbst mit eigenem Garten sei es schwierig, Windeln auch nur von einem Kind selbst zu kompostieren: „Es dauert etwa ein Jahr, bis eine unserer Windeln kompostiert ist. Und in einem Jahr fällt pro Kind etwa eine halbe Tonne Windelmüll an. Das ist eine gigantische Masse.“ Deshalb haben sie die Idee, eines Tages auch einen Rücknahme-Service anzubieten und die Windeln selbst zu kompostieren. Verpackt werden die Windeln in einer Behindertenwerkstatt: „Es geht uns darum, die Welt ein bisschen besser zu machen.“ Das hat seinen Preis: Rund 63 Cent kostet eine faire Windel. Beim herkömmlichen Markenhersteller gibt man dafür nur 17 Cent aus.

WINDELFREI

Noch umweltfreundlicher ist es ganz ohne Windeln. Viele Eltern können sich das allerdings kaum vorstellen: „Die Leute reagieren überrascht, wenn sie hören, dass mein Sohn seit dem vierten Monat keine Windel mehr trägt“, schreibt Ingrid Bauer in ihrem Buch „Es geht auch ohne Windel! Der sanfte Weg zur natürlichen Babypflege“ (Kösel Verlag). „Oft können sie kaum glauben, dass er seinen Drang bewusst wahrnahm und wir uns darüber verständigen konnten, noch bevor er das erste Wort sprechen konnte“, schreibt sie. Ihr und den meisten Eltern, die diese Methode praktizieren, geht es nur zum Teil um die Umwelt - mindestens ebenso wichtig ist für sie, dass durch die Methode eine besondere Bindung zwischen Elternteil und Kind entsteht. Es geht dabei darum, dass ein Baby von Geburt an Signale aussendet, wenn es mal muss. Und diese Signale müssen die Eltern dann richtig deuten. Das funktioniert eher, wenn das Kind viel im Tuch getragen und gestillt wird und im Familienbett schläft. „Die Idee ist, auf alle Bedürfnisse des Babys entsprechend zu reagieren und dem Baby so zu zeigen, dass es verstanden wird“, heißt es auf der Internetseite abhala.de. Das steht übrigens für „abhalten“. So nennen es Eltern, wenn sie ihr Baby im richtigen Moment über eine Toilette, ein spezielles Töpfchen oder draußen in die Büsche halten, damit es sich entleert.

Im Internet findet man Blogs mit Erfahrungsberichten: „Am Anfang hielten wir sie immer beim Wickeln und nach dem Aufwachen ab. Irgendwie merkte man ihr es wirklich schon an“, schreibt eine Mutter unter kinderhaben.de über ihre Tochter. „Sie wurde unruhig, irgendwie unentspannt ... und oh Wunder, es klappte tatsächlich! Jedes Pipi, das wir auffingen, war wie ein kleiner Triumph.“ Aber ganz einfach ist die Methode nicht: „Mit den Wochen änderten sich auch ihre Signale. Manchmal lachte sie, wenn sie musste. Manchmal meckerte sie. Manchmal ließ sie sich auch gar nichts anmerken.“ Trotz eines zeitweiligen „Windelfreistreiks“ bilanziert die Mutter: „Windelfrei macht Spaß. Klar, es ist etwas aufwendig: Wir müssen Frida stets genau beobachten und ihre Signale richtig deuten. Aber wir merken ihr an, wie glücklich und entspannt sie ist.“ Damit das klappt, kann man Workshops besuchen (Infos: www.ohne-windeln.de).

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