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Élise (Marion Barbeau) wartet auf ihren nächsten Auftritt.

© Foto: Studiocanal

Spielfilm „Das Leben ein Tanz“: Auf Zehenspitzen

So hat man Ballett lange nicht im Kino gesehen. Der Film „Das Leben ein Tanz“ vom französischen Regisseur Cédric Klapisch vibriert regelrecht.

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Nonverbale Kommunikation ist ein brutales Wort für ein intimes Zwiegespräch zwischen zwei Wesenheiten, die ganz ohne Worte auskommen: ein Körper und eine Kamera. Der Körper gehört der Tänzerin Élise (Marion Barbeau) und die Kamera Alexis Kavyrchine. Man versteht wieder, dass am Anfang der Tonfilmära viele glaubten, was jetzt noch kommen könne, sei bloß Verfall. Was für ein geradezu schmerzhaft vibrierendes Hochenergielevel! So hat man klassisches Ballett kaum je gesehen.

Und das dauert. Zuerst tanzen die anderen, der französische Regisseur Cédric Klapisch kürzt nichts ab. In Élises Anspannung vor dem großen Auftritt fällt ein beiläufiger, zielloser Blick zur Seite, noch hinter der Bühne: Ihr Freund berührt eine Kollegin, ganz unzweideutig. Solche Momente stellen die Zeit still, aber Élises Zeit läuft. Gegen sie.

„En Corps“ ist der französische Originaltitel von „Das Leben ein Tanz“. Im Körper. Und wirklich darf man fragen: Sehen wir diesen Film überhaupt, also mit dem üblichen Abstand zwischen Zuschauer und Leinwand, oder sehen wir ihn nicht gleichsam von innen? Wenn Élises Kopf jetzt nicht ganz leer wird, bloßes willenloses Anhängsel ihres tanzenden Körpers, hat sie keine Chance.

Es ist ein Drama zu dritt, denn die Musik hält beide zusammen, den Körper und die Kamera. Es ist erstaunlich, wie lange das währt, ohne an Intensität zu verlieren. Fünf stumme Minuten, zehn Minuten? Dass dieser Regisseur sich das traut! Genau wie Kornél Mundruczó in der Eröffnungsszene von „Evolution“, der Ende August in die Kinos kam. Da versuchten Männer eine Gaskammer in Auschwitz zu reinigen, und man denkt: Das hört nie mehr auf. Nur filmt Cédric Klapisch hier gewissermaßen vom Gegenpol her, des aufs Höchste gespannten Daseins. Es geschieht gleichsam im letzten Moment, ein minimal verfehlter Sprung, ein Sturz. Und schon ist es vorbei, dieses Leben auf den Zehenspitzen. War es das?

Wie lange würde man brauchen, alle Tanzfilme der Kinogeschichte zu sehen? Vielleicht ein Jahr – oder mehr? Eigentlich, sollte man meinen, bleibt Klapisch nur die Chance der Kolportage, aber er beginnt auf die einzig mögliche Weise. Als wäre er der Erste, der einen Tanzfilm dreht. Wer wie er immer wieder von der Filmhochschule abgelehnt wurde, besitzt wohl die nötige mentale Fitness.

Zu stark ist zudem das Sujet: ein ganzes Dasein buchstäblich auf die Zehenspitzen gestellt, Fehler sind nicht zulässig. In den meisten Tanzfilmen geht es um die Frage, wie schaffe ich es vom Entlein zum Schwan, wie weit, wie steil ist der Weg nach oben? Hier nun biegt Klapisch ganz entschieden ab. Er fragt: Wie komme ich von oben nach unten?

Physiotherapeut Yann (François Civil) behandelt Élise (Marion Barbeau).

© Foto: Studiocanal

Denn die Ärzte machen der jungen Frau mit dem Knöchelbruch bald klar, dass sie von nun an überall auf der Welt sein dürfe, aber an einem Ort möglichst nie mehr: auf einer Ballettbühne.

Élises Weg nach unten also. Aber ist, von unten betrachtet, unten wirklich unten? Und wie lange braucht man, es in Farbe zu sehen, gar zu tanzen? All diese Erkundigungen hätten nicht die geringste Chance ohne die wunderbar zarte, starke Marion Barbeau, die mindestens eine so gute Schauspielerin ist, wie sie tanzen kann. Also mächtig der leisesten und lauten Töne und aller dazwischen.

Die braucht sie auch, denn Cédric Klapisch ist nicht zuletzt der Regisseur des Dazwischen. Sein wohl bekanntester Film „Barcelona für ein Jahr“ von 2002 – haben wir den nicht gestern erst gesehen? Und dieses Dazwischen – zwischen Menschen, zwischen Orten – ist der zweite Hauptschauplatz des Films, bis Élise irgendwann wieder „Hier!“ sagen kann.

Nun bei einer ganz anderen, aber ebenso intensiven Form des Tanzes, für die Klapisch den israelischen Choreografen und Tänzer Hofesh Shechter und seine Company vor die Kamera holt.

„Das Leben ein Tanz“ ist opulent, ohne opulent zu wirken, effektsicher, ohne effektheischend zu sein. Die eigentliche Faszination dieses Films aber besteht wohl darin, so eindringlich vor Augen und Ohren geführt zu bekommen, was wir alle wissen, nur jeden Tag wieder vergessen: Die Primärsprache ist die der Musik und der Körper. Die kümmerliche Mitteilungsweise, der wir sonst exklusiv zugestehen, „die Sprache“ zu sein, kommt dagegen kaum in Betracht.

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