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Und das waren die Helden (v.l.): Karsten Nied, Christian Fiedler, Ayhan Gezen, Sven Kaiser, Oliver Schmidt, Sven Meyer, Carsten Ramelow, Andreas Schmidt, Oliver Holzbecher, Gerald Klews und Wolfgang Kolczyk.

© imago/Camera 4

Pokalfinale 1993: Als Berlin sich in die Hertha-Bubis verliebte

Vor 25 Jahren schafften es die Amateure von Hertha BSC sensationell bis ins Pokalfinale gegen Bayer Leverkusen. Eine Erinnerung.

Die Fahrt zum Stadion hat Carsten Ramelow bis heute nicht vergessen. Mit dem Mannschaftsbus aus dem Wedding zum Olympiastadion, über Bismarckstraße, Kaiserdamm und Heerstraße, immer im Windschatten der Polizeieskorte, „bei jeder roten Ampel haben wir gejubelt“. Draußen standen sie zu Hunderten am Straßenrand. Ganz Berlin war auf den Beinen an jenem 12. Juni 1993, als sich Ramelow und seine Freunde daranmachten, das letzte Kapitel einer sensationellen Erfolgsgeschichte zu schreiben. Vor bald 25 Jahren, als die zweite Mannschaft von Hertha BSC beinahe den DFB-Pokal gewonnen hätte. Der Fußballspieler Carsten Ramelow stand mit der deutschen Nationalmannschaft im WM-Finale und mit Bayer Leverkusen im Endspiel um die Champions League. Und sagt im Rückblick, all das komme nicht ran an die Intensität des Glücksgefühls bei diesem Pokalfinale gegen Bayer Leverkusen. An diese ungezwungene Atmosphäre, diese Mischung aus Anspannung und Leichtigkeit.

Eine Busladung junger Burschen, der jüngste war 18 und der älteste 23. Herthas zweite Mannschaft spielte damals drittklassig in der Oberliga und firmierte offiziell unter „Hertha BSC Amateure“, aber der Volksmund hatte einen eigenen Namen kreiert. Vor einem Vierteljahrhundert verliebte sich Berlin in die Hertha-Bubis. Carsten Ramelow ist im Frühjahr 1993 19 Jahre alt. Der kämpferisch veranlagte Mittelfeldspieler mit dem weißblonden Haarschopf gilt als das größte Talent des Berliner Fußballs und hat für seine Karriere eine Ausbildung bei der Polizei abgebrochen. Er spielt noch für Herthas A-Jugend, ist in der Oberliga-Mannschaft eine feste Größe und trainiert auch schon bei den Profis mit. „War vielleicht ein bisschen viel“, der Körper steckt die Belastungen nicht so leicht weg, und Ramelow bricht sich innerhalb von ein paar Wochen zweimal den Mittelfuß.

Die Anfänge des Berliner Fußballmärchens erlebt er deshalb nur als Zuschauer. Im Wedding, wo Herthas Amateur- und Jugendabteilung in den frühen Neunziger Jahren noch zu Hause ist. Die Hertha-Bubis müssen im Training auf der großen Wiese im Schillerpark schon mal selbst die Tore aufbauen. Zu Punktspielen dürfen sie auf die Anfield Road, so nennen sie den Rasenplatz an der Osloer Straße. Die richtige Anfield Road ist die Heimat des FC Liverpool, der dort ähnlich unbezwingbar ist wie Herthas Amateure am Wedding. Könnte auch daran liegen, dass der Platz so holprig ist, dass kein Gegner damit klarkommt. Zur ersten Pokalrunde kommt SG Kirchheim aus Heidelberg an die Weddinger Anfield Road und fährt mit einer 0:3-Niederlage nach Hause.

Die Weddinger Anfield Road

Der zweite Gegner ist schon prominenter, es handelt sich um den Zweitligisten VfB Leipzig, der von Herthas früherem Trainer Jürgen Sundermann betreut wird. Als Sundermann aus dem Kabinenhäuschen tritt, fragt er den Stadionsprecher: „Wo ist denn hier der Hauptplatz?“ Carsten Ramelow steht auf einer der schmalen Steinstufen am Spielfeldrand und feiert später am Abend mit seinen Freunden den 4:2-Sieg in der Weddinger Pizzeria San Remo. Der Wirt hier heißt Camillo und er behauptet, er habe exakt diesen 4:2-Sieg vorausgesagt. Die Spieler lachen, aber dann geht Camillo zu seiner Registrierkasse und holt einen Beleg mit Datum, Uhrzeit und richtigem Tipp. Jetzt lacht keiner mehr, die Spieler bitten Camillo, das doch bitte auch beim nächsten Spiel so zu machen. Es ist das Achtelfinale gegen Hannover96, den Pokalsieger des vergangenen Jahres. Wegen des gewachsenen Zuschauerinteresses zieht Hertha nach Charlottenburg ins Mommsenstadion. Camillo tippt auf einen 4:3-Sieg – und genau so geschieht es. „Völlig verrückt“, sagt Carsten Ramelow, er hat sich gerade zum zweiten Mal den Fuß gebrochen und darf wieder nur zuschauen. Auch für einen Einsatz im Viertelfinale reicht es noch nicht.

Der Bundesligist 1. FC Nürnberg kommt mit den Nationalspielern Andreas Köpke, Hans Dorfner und Dieter Eckstein ins Mommsenstadion. 14 000 Zuschauer fiebern mit den Berliner Bubis, die bis kurz vor Schluss 1:0 führen. In der letzten Minute schafft Nürnberg den Ausgleich. Carsten Ramelow mag nicht hinsehen, alle haben sie Angst vor der Verlängerung, in der die Profis ihre größeren Kraftreserven ausspielen können. Wie Daniel Lehmann dann doch noch das Siegtor schießt, bekommt Carsten Ramelow auf der Tribüne nur schemenhaft mit, weil vor ihm alles aufspringt. 2:1, Schluss, Aus, Ende. Nur Camillo hat es mal wieder vorher gewusst und präsentiert seinen Beleg aus der unbestechlichen Registrierkasse. Danach ist Winterpause, Carsten Ramelow kuriert seinen Fußbruch aus und darf endlich selbst mit eingreifen. Für das Halbfinale dürfen die Bubis zum ersten Mal ins Olympiastadion. Das wird im Alltag von Hertha Profis bespielt, oft verlieren sich nicht mal 5000 Zuschauer in dem riesigen Kessel.

Und der Wirt wusste es - fast immer

Die Bubis haben bei der Auslosung Glück: Sie bekommen den Zweitligisten FC Chemnitz als Gegner, im zweiten Halbfinale duellieren sich die Erstligisten aus Frankfurt und Leverkusen. Diesmal tippt Camillo per Fax: 2:1, natürlich für Hertha. An einem kühlen Mittwochabend kommen 56000 Zuschauer nach Westend. Carsten Ramelow schießt bei seiner Pokalpremiere schnell das 1:0, „ein sensationelles Gefühl vor dieser Kulisse“. Sven Meyer legt noch das 2:0 nach, den Chemnitzern gelingt nur dieses eine Tor, das Camillo für seinen Tipp braucht. Die Bubis stehen im Finale, aber Camillo schwächelt zum ersten Mal. Ja, Hertha werde wohl gewinnen, aber er zögert beim exakten Ergebnis. Könnte ein 1:0 werden, vielleicht auch ein 2:1, mal sehen. Am Wochenende vor dem großen Finale bestreiten Herthas Profis das letzte Punktspiel der Zweitligasaison. 3300 Zuschauer verfolgen den 1:0-Sieg gegen den FC Homburg, den nur Carsten Ramelow als etwas ganz Besonderes empfindet, denn er schießt das einzige Tor, sein erstes überhaupt im Profifußball.

Sechs Tage später drängen sich knapp 80000 Menschen in das baufällige Olympiastadion, in ihrer überwältigenden Mehrheit brüllen sie den Außenseiter nach vorn. Auf dem Rasen sind die Machtverhältnisse umgekehrt. „Leverkusen war deutlich besser“, sagt Carsten Ramelow. „Aber wir haben irgendwie gehofft, dass wir es vielleicht in die Verlängerung schaffen und dann ins Elfmeterschießen. Oder dass vielleicht ein Glücksschuss reingeht.“ Die Hoffnung währt bis zur 77. Minute. Dann flankt Pavel Hapal von links, Ulf Kirsten springt hoch, stützt sich auf den Rücken des Berliners Sascha Höpfner und wuchtet den Ball mit der Stirn ins Tor. „Also, wenn es damals schon den Videobeweis gegeben hätte…“, seufzt Ramelow. Im Juni 1993 sind die Bubis zu erschöpft zum Protestieren, auch für einen Endspurt reicht es nicht.

Leverkusen siegt 1:0, Hertha feiert dennoch. Autokorso, Empfang im Roten Rathaus, Bankett in der Pizzeria San Remo, wo der zerknirschte Camillo seinen Tippzettel entsorgt. Herthas Bubis gehen auseinander und spielen nie wieder zusammen. Carsten Ramelow spielt noch zwei Jahre für Herthas Profis und wechselt dann zu Bayer Leverkusen, dem Finalgegner von 1993. Mit Ulf Kirsten hat er ein paar Mal über dessen Siegtor debattiert, „mehr so im Spaß“. 2008 zwingt ihn eine Knieverletzung zum Aufhören, aber da ist er auch schon 34.

Läuft er den Kollegen von damals noch manchmal über den Weg? „Eher selten, ich bin ja im Westen geblieben, die anderen wohnen fast alle in Berlin.“ Der Wirt Camillo ist vor ein paar Jahren gestorben, Herzinfarkt. Auch der Mannschaftsbetreuer und der Stadionsprecher sind nicht mehr am Leben. Zum 25. Jubiläum hat Trainer Jochem Ziegert zu einem Wiedersehenstreffen nach Berlin eingeladen. „Tolle Idee“, findet Carsten Ramelow, aber zum festgelegten Termin ist er leider schon seit Langem verplant. „Macht nichts, dann eben im nächsten Jahr oder im übernächsten, so ein 27. Jahrestag ist doch mal was anderes.“

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