
Eiskunstlauf: Auf der Goldwaage
Der Olympiasieg muss her. Selbst ein zweiter Platz würde nichts nützen. Denn für die Paarläufer Sawtschenko/Szolkowy geht es nicht nur um die Ehre. Es geht um viel Geld. Und das fließt nur bei einer Goldmedaille. Wenn es fehlt, steht die Deutsche Eislauf-Union vor der Pleite. Eine Glamoursportart wäre am Ende
Die Geschichte mit der Wunde war natürlich erstmal übel, einerseits. Mit einer Schlittschuhkufe fuhr Aljona Sawtschenko in die Hand von Robin Szolkowy. Damit war das Training in der Nebenhalle des Pacific Coliseum in Vancouver beendet. Andererseits bot die Wunde Ingo Steuer, dem Trainer, auch eine Chance. Er konnte das Eiskunstlauf-Paar abschirmen, zwei Tage tauchte das Trio nicht beim Training auf. Zwei Tage Ruhe, zwei Tage nicht bohrenden Blicken von Reportern, Gegnern, Preisrichtern ausgesetzt. Training ist auch immer Show, man strahlt Selbstsicherheit aus, man präsentiert sich, vor allem den Preisrichtern, die erste Eindrücke sammeln. Aber da ist auch dieser extreme Druck auf Steuer und sein Paar. Diesen Druck konnte er nun reduzieren, ein wenig jedenfalls, zumal die Verletzung dann doch nicht weiter schlimm war.
Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy aus Chemnitz sind zweimalige Weltmeister. Sie sind dreimalige Europameister. Aber sie waren noch nie Olympiasieger. Wenn sie sich zeigen, darf niemand spüren, wie groß der Druck ist. Jedes Zeichen von Nervosität ist eine entlarvende Botschaft an die Gegner. In Vancouver sagt Steuer: „Sie müssen so gut sein wie Fernsehschauspieler.“
Eine kleine Szene zeigte die ganze Anspannung, eine von vielen in den letzten Tagen vor dem Abflug nach Vancouver. Die Trainingshalle in Chemnitz ist ein schmuckloser Zweckbau. Stahlgerippe durchziehen die Hallendecke, die Wände sind mit Wellblech verkleidet, ein Bretterverschlag dient als eine Art Kiosk. Auf dem Eis das Paar und Ingo Steuer. Der Trainer umkreist die Athleten wie ein Schäferhund die Schafherde. An der Bande springen Szolkowy und Sawtschenko. Szolkowy springt nicht exakt genug. „Beine“, schnauzt Steuer. „Ja ja“, brummt Szolkowy und fährt lässig weiter. Ja ja? Was ist denn das für eine Antwort? Steuer kurvt zur Eismitte, den Kopf gesenkt, mit wildem Blick. In diesem Moment erinnert er an einen Stier, der die Hörner gesenkt hat. „Nicht bloß ja ja“, schnauzt er ins Nirgendwo, „mit ja ja ist es nicht getan.“
Szolkowy springt nicht exakt genug. „Beine“, schnauzt Steuer
Haben sie denn immer noch nicht kapiert, dass es hier um Perfektion geht? Um die Steuersche Definition von Perfektion? Er war selber Paarlauf-Weltmeister, 1997 mit Mandy Wötzel. „Aber die Siegerkür“, sagte er einmal in seinem Trainerzimmer, „war nicht perfekt. Ich war nicht zufrieden.“ So ist Steuer.
Aber er muss Sawtschenko und Szolkowy nichts mehr beibringen. Die haben diesen Perfektionismus längst verinnerlicht. Sie müssen nur irgendwann auch ihre Spannung abbauen. „Es geht um die Goldmedaille“, sagt Steuer. „Um nichts anderes. Alles außer Gold wäre enttäuschend.“ Seitdem seine schwarzen Haare kürzer sind und keine Strähnen mehr in sein Gesicht fallen, hat er dieses Diabolische verloren. Aber nur ein bisschen. Der durchdringende Blick mit den schwarzen Augen, der ist geblieben.
Dieser Kampf um den Olympiasieg ist mit Symbolen überladen. Es geht zum Beispiel um Kunst auf dem Eis. Ingo Steuer, der geniale Choreograf, will „etwas schaffen, was die Zeit überdauert“. Auf dem Eis von Vancouver will Ingo Steuer sein eigenes Denkmal modellieren. Die Kür von Sawtschenko/Szolkowy soll noch Generationen von Fans bezaubern.
Niemand läuft so elegant, so anmutig wie der 30-Jährige mit dem Vater aus Tansania und der Mutter aus Deutschland und die gebürtige Ukrainerin. Im Herbst 2009 stand Jewgeni Platow, zweimaliger Eistanz-Olympiasieger, in Oberstdorf an der Bande, als die Deutschen ihr Kurzprogramm zelebrierten. Platow war hingerissen. „Fantastisch“, verkündete er, „ich habe jetzt noch Gänsehaut.“
Dieses Gefühl hatten offenbar auch die Preisrichter im November 2009 im kanadischen Kitchener beim „Skate Canada“. Dort zauberten Sawtschenko/Szolkowy ihre Olympiakür zur Filmmusik von „Jenseits von Afrika“ aufs Eis. Die Juroren tippten die höchsten Noten in ihre Computer, die je vergeben worden waren. Weltrekord. Nichts symbolisiert mehr die Extraklasse des Paares als dieser Weltrekord.
Das glanzvolle Trio aus Chemnitz fühlt sich immer noch ausgerenzt.
Denn diese Kür hatten sie in nur fünf Wochen einstudiert. Ihre ursprüngliche Olympiakür war zu kompliziert, selbst für Weltmeister. Also entwickelte Steuer quasi über Nacht eine neue, mit neuer Musik. In fünf Wochen auf Weltrekordniveau, fantastisch. Nur die dreimaligen Weltmeister Xue Shen/Hongo Zhao aus China bewegen sich auf ähnlichem Niveau wie die Deutschen. Der Kampf um Gold wird vor allem zwischen diesen beiden Paaren entschieden. Nur Außenseiterchancen haben die Russen Yuko Kawaguchi/Alexander Smirnow.
Aber dieser Olympiasieg steht auch für Rache. Gold soll auch die Antwort auf das Gefühl von Demütigung sein. Das glanzvolle Trio aus Chemnitz fühlt sich immer noch ausgerenzt. Die drei erhalten keinen Cent öffentliche Fördermittel; die Sportler honorieren ihren Trainer selber, und der muss sein Hotel, seine Flüge, seine Verpflegung aus eigener Tasche bezahlen, wenn er nicht vom Weltverband oder von einer Show eingeladen wird. Seine Vergangenheit als Stasi-Spitzel hängt ihm immer noch nach. Seit Jahren kämpfen Karla Vogt-Röller, die Anwältin von Steuer, und der Trainer, darum, dass er mit öffentlichen Geldern bezahlt werden darf. Der Olympiasieg, das wäre die trotzige Antwort auf all diese Probleme.
Aber dieser Kampf um Gold hat noch eine ganz andere, eine dramatische Dimension. Die Zukunft des deutschen Eiskunstlaufs steht auf dem Spiel. Die Zukunft einer Glamour- und Glitzershow mit ihren Dramen und Tränen, mit ihren Stars und Sternchen, Katarina Witt, Tanja Szewczenko, Norbert Schramm. Und nur Sawtschenko/Szolkowy können das Schlimmste verhindern.
Um das zu verstehen, muss man zu einer eleganten, grauhaarigen Frau mit akkuratem Seitenscheitel. Karla Vogt-Röller hat ihre Kanzlei in einer Seitenstraße in Berlin-Tempelhof. Auf einem Tisch aus Kirsche mit Ebenholz liegt hier ein brisantes Papier – das Protokoll des Landgerichts München I vom 8. Oktober 2008.
Es ist das Dokument, das der Deutschen Eislauf-Union (DEU) zum Verhängnis werden kann. Denn darin steht, dass die DEU dem Paar und ihrem Trainer 250 000 Euro Sponsorengelder vermitteln wird. Frist bis 30. April 2010. Im Gegenzug zieht die Anwältin ihre Klage gegen die DEU zurück und betrachtet alle ausstehenden Forderungen für erledigt. Fließt kein Geld, dann geht’s in die Hauptverhandlung; derzeit ruht das Verfahren. Vogt-Röller klagt auf nachträgliches Trainerhonorar, entgangene Prämien und das Recht von Sawtschenko/Szolkowy, einen Trainer ihrer Wahl zu benennen, der mit öffentlichen Mitteln bezahlt wird. Gesamthöhe der Forderungen: rund 330 000 Euro.
„Die Chancen, dass ich gewinne“, sagt die Anwältin lächelnd, „halte ich für hoch.“ Sie hatte mehrere einstweilige Verfügungen gegen die DEU erwirkt, verloren hat die 54-Jährige noch nie. Und wäre die DEU wirklich siegessicher, hätte sie dem Deal nicht zugestimmt. Wie viel Sponsorengeld ist denn bisher eingegangen? „Kein Cent.“ Das Lächeln ist erstorben.
Die DEU hat nur eine Chance. Sie muss Olympiasieger zur Vermarktung anbieten.
Die DEU bestreitet einen verzweifelten Wettkampf gegen die Zeit. „Wir selber können das Geld auf keinen Fall bezahlen“, sagt Uwe Harnos, der Vize-Präsident der DEU. Wie auch? Die DEU ist schon jetzt fast pleite. Harnos kann nichts dafür, seine Vorgänger im Präsidium haben den Verband heruntergewirtschaftet.
Und wenn er das Geld nicht auftreiben kann bis zum 30. April? „Dann“, sagt Harnos, der bullige Rechtsanwalt aus Kaufbeuren, „geht’s um die Existenz des Verbands.“ Verliert die DEU den Prozess, ist sie endgültig pleite. Und dann ist die Hochleistungssportart Eiskunstlauf in Deutschland enorm gefährdet.
Die DEU hat nur eine Chance. Sie muss Olympiasieger zur Vermarktung anbieten. Nur die haben überhaupt die Chance, Sponsoren zu gewinnen. Silber reicht nicht. Sawtschenko/Szolkowy sind ja schon Weltmeister, aber auf ihren Autos kleben Logos der Güteklasse „Stadtwerke Chemnitz“ und „Autohaus Hirsch“.
Deshalb starrt die DEU-Führung in der Nacht zum Dienstag mit Hochspannung auf die Kür der Paare. „Wir denken, dass wir im Recht sind“, sagt Harnos zwar tapfer. Aber das muss er sagen. Noch ein Problem, selbst bei einem Sieg: Die Sportler und Steuer müssen einer Fristverlängerung über den 30. April hinaus erst mal zustimmen. Nur so hätte die DEU Zeit, überhaupt Sponsoren zu finden. Ob das Trio einer Verlängerung zustimmen würde, ist noch unklar. „Darüber“, sagt Vogt-Röller, „haben wir noch nicht geredet.“
Im Bundesstützpunkt Berlin bekommt die ganze Dramatik ein Gesicht. Im zweiten Stock hat Reinhard Ketterer sein Büro. Ein 61-Jähriger mit Dreitagebart und bayerischem Dialekt. Früher stand er in Garmisch-Partenkirchen auf dem Eis, jetzt ist er umgeben von Unterlagen, ein Leitender Landestrainer ist vor allem ein Organisator.
„Wenn die DEU pleiteginge, wäre das eine Katastrophe.“
Ketterer piekst mit der Gabel in ein Stück geschnittenen Apfel, während er sagt: „Wenn die DEU pleiteginge, wäre das eine Katastrophe.“
Dann verlöre die Trainerin Viola Striegler ihren Geldgeber. Und Peter Liebers, der Deutsche Vizemeister von 2010, stünde ganz alleine da. Und die Juniorenläufer des C-Kaders in Berlin ebenfalls. Ohne DEU-Gelder kein Ballettunterricht. Das trifft zehn Spitzenläufer. Die Choreografie ist dann auch beendet.
Einfach wechseln? Ja, wohin denn? Die DEU fördert die Bundesstützpunkte Chemnitz, Dortmund und Berlin. Allen fehlten dann Gelder. „Für uns“, sagt Ketterer, „ist die Steuergeschichte eine tickende Zeitbombe.“
Ein Teufelskreis. Ohne Spitzenergebnisse verliert Berlin den Status als Bundesstützpunkt und 100 000 Euro pro Jahr Zuschuss vom Bundesinnenministerium. Dann dreht auch der Landessportbund den Geldhahn zu. Er fördert nur Talente, wenn die später auch mit Bundesmitteln unterstützt werden. In Oberstdorf ist das alles passiert. Dort kämpfen sie jetzt verzweifelt darum, dass sie eine Eisbahn nicht schließen müssen. „In Berlin“, sagt Ketterer, „könnte es ähnlich kommen.“
Natürlich könnte es theoretisch einen Nachfolgeverband für die DEU geben. Aber der müsste die 330 000 Euro an das Trio aus Chemnitz bezahlen. Es ist unvorstellbar, dass ein Weltmeisterpaar auf seinen Forderungen sitzenbleiben muss, solange es einen Eislauf-Verband gibt.
Wenn sie siegt, kann Vogt-Röller pfänden lassen, was die DEU besitzt. Aber was heißt das schon? „Ein paar Computer, mehr nicht“, sagt Ketterer ironisch. Weit weg von der Wahrheit ist das nicht.
Als die DEU ihre neue Geschäftsstelle bezog, konnte sie nicht mal einen Elektriker zum Aufhängen der Lampe bezahlen.