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Zakia Khudadadi vor ihrem Wettkampf in Tokio.

© Reuters

Aus dem besetzten Kabul zu den Paralympics: So schaffte es das afghanische Team doch noch nach Tokio

Mehrere Zwischenstopps und Helferinnen waren für die Evakuierung nötig. Jetzt bekommen die afghanischen Sportler:innen humanitäre Visa.

„Es ist wirklich herzzerreißend. Wir können leider nichts tun, um sie aus dem Land zu holen.“ Diese Worte des Sprechers des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), Craig Spence, stellten kurz vor Beginn der Paralympics klar: Die in Afghanistan festsitzenden Athlet:innen werden es wohl nicht mehr nach Tokio schaffen. Dass alles anders kommen sollte, wusste an diesem Tag noch niemand.

Erst zwei Wochen zuvor hatte Zakia Khudadadi, die erste weibliche Para-Taekwondo-Teilnehmerin Afghanistans und erst die zweite afghanische Frau überhaupt bei den Paralympics einen Hilferuf per Video abgesetzt. „Ich bin in diesem Haus eingeschlossen“, sagte Khudadadi darin. „Ich kann es nicht verlassen, nicht mal für Einkäufe. Und meine enge Familie ist in der Stadt Herat, die jetzt komplett von den Taliban kontrolliert wird.“ Sie berichtete davon, dass sie sich gerade bei entfernteren Verwandten in der Hauptstadt Kabul aufhalte, deren Essen kaum für alle reiche. „Als eine Vertreterin afghanischer Frauen bitte ich Sie um Hilfe. Ich will bei den Paralympischen Spielen in Tokio teilnehmen. Bitte reichen Sie mir die Hand und helfen Sie mir.“

Khudadadi und der Leichtathlet Hossain Rasouli hatten es nicht rechtzeitig aus dem Land geschafft, bevor die Machtübernahme der radikal-islamischen Taliban einen sicheren Weg nach Tokio scheinbar unmöglich machte.

Rückschlag für Frauenrechte

Besonders bitter: Die vorerst abgesagte Teilnahme der 22-jährigen Khudadadi kam einer Kapitulation vor den frauenfeindlichen Restriktionen der Taliban gleich. Die Sportlerin stand stellvertretend für eine neue Generation aufstrebender Frauen, die in einem Afghanistan nach der Herrschaft der Taliban in den Neunzigern aufwuchs. Die Terrorgruppe war ab 2001 von den westlichen Alliierten zunächst verdrängt worden, was eine Stärkung der Frauenrechte ermöglichte. Nun, da Afghanistan wieder unter Kontrolle der Taliban steht, sind auch Frauen wieder der streng religiösen Scharia-Gesetzgebung unterworfen. Dass Frauen weiter Sport treiben dürfen, geschweige denn an internationalen Wettbewerben teilnehmen, halten viele Athlet:innen und Expert:innen für ausgeschlossen. Schon während der Neunziger war Frauen das Sporttreiben in dem Land verboten.

Hossain Rasouli trat im Weitsprung an.
Hossain Rasouli trat im Weitsprung an.

© REUTERS

Am vergangenen Sonntag dann die Nachricht, mit der kaum jemand gerechnet hätte: Rasouli und Khudadadi landeten in Tokio. Die Taekwondo-Athletin kam noch rechtzeitig zu ihrem Wettkampf. Der Leichtathlet jedoch hatte bereits seinen ersten 100-Meter-Lauf verpasst. Die Organisatoren boten ihm einen Platz im 400-Meter-Lauf an, diese Distanz hielt er jedoch für eine zu große Herausforderung, weshalb er im Weitsprung antrat. Dass Rasouli und Khudadadi in ihren Wettkämpfen unterlagen, wurde angesichts der überhaupt zustande gebrachten Teilnahme zur Nebensache.

Doch wie schafften es die Athlet:innen noch zu den Paralympics?

Welche Rolle spielt das IPC?

Wenige Stunden nach der Ankunft der beiden in Tokio, erzählte IPC-Sprecher Craig Spence: „Bei der Eröffnungsfeier haben wir auch die afghanische Flagge ins Stadion getragen. Das war der erste Schritt des IPC, um die Tür für eine Teilnahme noch offen zu lassen.“ Laut ihm sei es dem IPC, ausländischen Botschaften und NGOs gemeinsam gelungen, die zwei Sportler:innen gemeinsam mit Arian Sadiqi, Chef de Mission der afghanischen Paralympics-Mannschaft, von Kabul nach Paris zu bringen. Dort seien sie den nötigen Covid-19-Tests unterzogen worden, hätten sportliche Trainings und psychologische Beratungen absolviert und seien dann mit einer Air-France-Maschine nach Tokio gebracht worden.

Andrew Parsons, Präsident des IPC, sagte laut der New York Times jedoch, dass seine Organisation bei der Evakuierung der beiden Sportler:innen aus Kabul nicht direkt involviert gewesen sei. In einer Erklärung, die kurz nach der Ankunft der afghanischen Athleten in Tokio veröffentlicht wurde, dankte er „mehreren Regierungen“, dem Center for Sport and Human Rights in Genf, Human Rights for All in Australien, dem Französischen Paralympischen Komitee, der British Paralympic Association und World Taekwondo.

Zakia Khudadadi war die erste afghanische Para-Taekwondoka bei den Spielen.
Zakia Khudadadi war die erste afghanische Para-Taekwondoka bei den Spielen.

© Reuters

Eine Gruppe aus Menschenrechtsaktivist:innen, Anwält:innen und ehemaligen Sportler:innen aus Australien und Großbritannien habe den Athlet:innen geholfen, Formulare ausgefüllt und sie beraten, wie sie am Besten zum und in den abgesperrten Flughafen von Kabul gelangen konnten. Mehr als 80 Sportlerinnen und Sportler seien nach Dubai ausgeflogen worden, nächster Stopp für die Paralympionik:innen war Paris und dann Tokio.

Nach Angaben der ehemaligen Olympionikin und heutigen Menschenrechtsanwältin Nicole Dryden erhalten die afghanischen Athlet:innen humanitäre Visa für Australien und können, wenn sie sich dafür entscheiden, dort leben.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog. 

Katharina Kunert

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