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Blindenfußball bei den Paralympics: „Es herrscht Vertrautheit zwischen Sehenden und Nichtsehenden“
Serdal Celebi ist blind und schießt Tore. Sven Gronau kann sehen und steht im Tor. Beim FC St. Pauli spielen sie zusammen Blindenfußball. In Paris werden sie jedoch fehlen.
Stand:
Herr Celebi, Sie sind blind und spielen Blindenfußball. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Fußball spielen?
Serdal Celebi: Fußball ist für mich Freiheit. Mit dem Ball zu dribbeln, ohne ihn zu sehen, ist ein geiles Gefühl. Für blinde Menschen ist Fußball der einzige Ort, an dem wir keine Hilfe brauchen. Auf der Straße oder im Park kann ich nicht mit Tempo laufen.
Herr Gronau, Sie verfügen über eine uneingeschränkte Sehfähigkeit und stehen beim Blindenfußball im Tor. Woraif müssen Sie im Spiel besonders achten?
Sven Gronau: Auf dem Feld bin ich kein Zuschauer, sondern Mitspieler. Für Torleute ist es anspruchsvoll. Es kommt auf das Guiding an, gleichzeitig aber auch das Umschalten in eine Eins-gegen-eins-Situation. Torleute dürfen ihren 2-Meter-Raum nicht verlassen – wenn ein Stürmer kommt, warten wir auf unserer Linie. Wir dürfen auch nicht den Winkel verkleinern oder entgegenkommen. Das sind besondere Facetten, die das Spiel für mich interessant machen.
Was sind die Unterschiede zum Nicht-Blindenfußball?
Gronau: Der größte Unterschied ist die Feldgröße von 20 mal 40 Metern. Und natürlich die Mannschaftsstärke, wir spielen vier gegen vier statt elf gegen elf. Ein Unterschied ist auch das Dribbling. Die meisten Blindenfußballer haben eine sehr enge und gute Ballführung. Das ist besser als beim sehenden Fußball. In Sachen Taktik und Räume gibt es aber auch viele Parallelen. Bei Schüssen kann man natürlich nicht an den Augen erkennen, wo sie hingehen. Viele kommen mit der Picke. Man muss entweder spekulieren oder reagieren.
Wie orientieren Sie sich auf dem Feld, Herr Celebi?
Celebi: Als Spieler kennt man den Platz wie seine Westentasche. Wir wissen schon, wie weit wir von der Bande und vom Tor entfernt sind. Es gibt drei Zonen auf dem Feld. In der ersten Zone kommuniziert der Torwart, der sehen kann. In der zweiten der Trainer und in der dritten ein Guide, der uns sagt, wo das Tor steht. Natürlich herrscht eine Vertrautheit zwischen Sehenden und Nichtsehenden, sonst könnte man diese Sportart nicht ausüben. Beispiel: Wenn Sven sagt, der Ball ist 30 Meter vor mir, dann renne ich dahin.
Gronau (lacht): Bei 30 Metern würde ich es dir nicht mehr sagen, das wäre ja ein Sprint übers ganze Spielfeld. Es geht um die kleineren Kommentare. Zum Beispiel auf welche Seite sich das Spiel verlagert. Ich darf nur in meiner eigenen Zone Kommandos geben. Das sind so Sachen wie, „geh auf den Ball“ oder „mache zwei Schritte nach links“.
Versteht man sich auf dem Platz im wahrsten Sinne des Wortes blind?
Celebi: Die Kommunikation zwischen den Feldspielern muss immer passieren, wir müssen uns blind verstehen. Wenn ich einen Ballverlust habe, rufe ich das sofort aus. Bevor ich passe, nehme ich immer den Kontakt zu meinen Mitspielern auf. Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg.
Was macht einen guten Blindenfußballer aus?
Celebi: Man muss mobil sein. Wenn ein Spieler mobil ist, hat er auch eine gute Ballbeherrschung. Wenn man sich die starken Spieler aus Argentinien und Brasilien anschaut, sind alle sehr schnell, sehr beweglich und ballsicher. Auch physisch und körperlich stark zu sein, ist wichtig.
Gronau: Beim Torwart kommt es auf Antizipation an, auf das Erfassen einer Spielsituation. Und natürlich die gute Kommunikation mit der Abwehr. Häufig werden Torhüter nach ihren Paraden bewertet, dabei kommt zu einem guten Spiel auch richtiges Guiding dazu. Teams wie Brasilien haben eine gute Abwehr, weil der Torwart gutes Guiding macht.
Herr Celebi, Sie haben 2018 das Tor des Monats im August geschossen. Wussten Sie direkt, dass das ein schönes Tor war?
Celebi: Nein, das wusste ich nicht. Mir wurde später erzählt, dass es schön aussah und dass es für das Tor des Monats nominiert wurde. Dann war Euphorie da und ich wurde gewählt.
Herr Gronau, beschreiben Sie ihren Mitspielern manchmal Treffer oder Aktionen im Nachhinein?
Gronau: Teilweise ja. Wenn mich die Spieler im Training warm schießen und ein paar Schüsse gehen daneben, dann versuche ich zu sagen, wie weit. Es gibt auch Spielsituationen, über die man danach spricht, wenn es eine gute Abwehr- oder Angriffsaktion war. Das geht aber in beide Richtungen. Ich bekomme auch von den Feldspielern Feedback, was ich besser beschreiben kann oder welche Kommandos sie brauchen.
Wie kamen Sie als nicht blinde Person dazu, Blindenfußball zu spielen?
Gronau: Ursprünglich komme ich aus dem Handball. Auf dem Neujahrsempfang vom FC St. Pauli habe ich 2010 Katja und Michael Löffler, die Gründer des Blindenfußballteams, kennengelernt. Ihnen fehlte für die neue Saison ein Torwart und sie fragten mich, ob aus der Handballabteilung jemand Interesse hätte. Bevor ich rumfragte, wollte ich es erstmal selbst ausprobieren.
Herr Celebi, verfolgen Sie auch Nicht-Blindenfußball?
Celebi: Ja natürlich. Ich gehe ins Stadion und habe eine Dauerkarte. Wir bekommen Kopfhörer und können das Spiel live mithören. Es gibt Reporter, die das Spielgeschehen genau beschreiben, sodass wir die gleichen Informationen haben. Ich freue mich total auf die neue Bundesligasaison mit St. Pauli.
Abschließend, was sind Ihre Tipps für das Blindenfußballturnier bei den Paralympics?
Celebi: In Gruppe A kommen China und Brasilien weiter, in Gruppe B Kolumbien und Japan.
Gronau: In der Gruppe A tippe ich das gleiche, bei Gruppe B setze ich auf Argentinien und Kolumbien. Ich glaube, es wird das spannendste Paralympics-Turnier aller Zeiten, weil es vier oder fünf Teams gibt, die ganz oben mitspielen. Da will ich gar keinen Sieger-Tipp abgeben.
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