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Neue Handball-Heimat Deutschland: Gintaras Savukynas (li.) startet mit seinem Team vom HC Motor Zaporozhye in der zweiten deutschen Handball-Bundesliga.

© imago images/Eibner

Nach der russischen Invasion in der Ukraine: Das Handballteam Motor Zaporizhzhia startet in der zweiten Bundesliga

Die Handballer von Zaporizhzhia dürfen endlich wieder spielen. In der Liga erwartet sie neben einer sportlichen vor allem eine mentale Herausforderung.

Das Wochenende vor dem Start in die Saison der zweiten Bundesliga hat Gintaras Savukynas seinen Spielern noch einmal frei gegeben. Das erste Mal seit Mitte Juli. Seitdem trainierte er mit dem Team von HC Motor Zaporizhzhia fast ununterbrochen. Seitdem gab es mehrere Testspiele – fast so, wie bei einer normalen Vorbereitung. Aber eben nur fast. Denn die Situation der ukrainischen Handballer ist alles andere als normal.

Seit Anfang Juli ist die Mannschaft von Zaporizhzhia in Düsseldorf untergebracht. Nachdem in ihrem Heimatland der Spielbetrieb aufgrund der russischen Invasion nicht mehr möglich war, machten sich Savukynas und sein Klub auf die Suche nach einer neuen Möglichkeit, um ihren Sport weiter ausleben zu können. „Wir haben Gespräche mit mehreren Föderationen geführt, aber in Deutschland waren die Bedingungen für uns am besten“, sagt der Trainer, dem die Gefilde hier durchaus bekannt sind.

Seit einiger Zeit fährt das Team in der Sommerpause nach Deutschland, um Trainingslager zu absolvieren, hat durch die Teilnahme an der Champions League gute Kontakte und bekam zudem Hilfe vom nationalen Verband. „Wir wussten nicht, was genau uns hier erwartet. Aber die Menschen haben sehr viel für uns getan und alles möglich gemacht, damit wir hier weiter Handball spielen können“, sagt Savukynas.

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Ein Wettbewerb in der ersten Bundesliga war zwar nicht möglich, allerdings stimmen die Klubs einer Teilnahme außer Konkurrenz in der zweiten Liga zu. Dafür wurden in der Sportstadt Düsseldorf die nötigen Infrastrukturen aufgebaut, das Castello als Trainings- und Spielstätte zur Verfügung gestellt und letztlich ebenso dafür gesorgt, dass Spieler, Betreuer und Co. mitsamt ihren Familien in der Rheinstadt leben können.

„Anfangs war es natürlich schwer“, sagt der gebürtige Litauer und verweist zunächst auf die sportlichen Herausforderungen. Von Februar bis Juli hatte sich die Mannschaft nicht gesehen. Einige Spieler hatten bei anderen Klubs angeheuert, so wie beispielsweise Torhüter Gennadiy Komok, der zum Ende der vergangenen Saison das Trikot des Bundesligisten HSG Wetzlar übergestreift hatte.

Die Gedanken sind oft bei den Zurückgebliebenen in Zaporizhzhia

Andere wiederum hatten keine Möglichkeit aktiv zu bleiben. Wieder andere haben sich dauerhaft einen neuen Verein gesucht, sodass der Kader nun aus vielen jungen ukrainischen Handballern besteht. Doch das ist selbstredend nur die eine Seite. Denn all diese Ukrainer – nur drei Spieler haben eine andere Staatsbürgerschaft – sind mit ihren Gedanken verständlicherweise oft in ihrer Heimat, bei zurückgebliebenen Verwandten und Freunden.

Nahezu täglich gibt es in den Nachrichten nicht nur neue Schlagzeilen bezüglich des Krieges, Zaporizhzhia ist mit seinem umkämpften Atomkraftwerk stets präsent. „Da passiert jeden Tag so viel bei den Jungs zu Hause. Da ist der Kopf zerstreut und es ist manchmal schwer, sich auf den Job hier zu konzentrieren“, berichtet der 51 Jahre alte Trainer.

Momentan muss er viel mentale Aufbauarbeit leisten. „Die Spieler brauchen jetzt mehr Kontakt und mehr Gespräche, aber wir müssen schauen, dass wir das zusammen durchstehen.“ Savukynas strahlt schon fast eine gewisse Nüchternheit aus, wenn er über die aktuellen Herausforderungen spricht.

Nüchtern insofern, weil die Ereignisse einerseits schwer in Worte zu fassen sind, andererseits, weil er als einzelne Person kaum etwas in dieser dramatischen Situation ausrichten kann. „Deshalb ist es wichtig, dass wir überhaupt Handball spielen können. Das ist zumindest ein kleines Stück Normalität“, sagt Savukynas, der sich umso mehr seinen Aufgaben als Trainer verschrieben hat.

Und da gibt es für den ehemaligen Nationalspieler einiges zu tun. Schließlich spielt sein Team in diesem Jahr nicht gegen die bewährten anderen sieben Kontrahenten in der ukrainischen Liga oder gegen die Gegner der SEHA League, sondern muss sich gegen 19 teils ihm unbekannte Vereine aus Deutschland beweisen.

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„Wir haben immer noch viel zu tun und zu korrigieren. Die Mannschaft muss noch wachsen. Aber das ist normal und wir machen unsere Schritte“, sagt Savukynas. „Das wird in diesem Jahr etwas ganz anderes. Nicht nur was die Anzahl der Spiele angeht, sondern auch das Level der Gegner ist wesentlich höher, als wir es aus der Ukraine gewöhnt sind. Doch das ist ja vorteilhaft, um uns zu fordern und Erfahrung zu sammeln.“

„Gerade geht es mehr darum, den Verein am Leben zu erhalten“

Seit 2013 hat Zaporizhzhia jedes Jahr den nationalen Titel gewonnen und seine Herausforderungen hauptsächlich in der Champions League gesucht. In diesem Jahr entschied die Europäische Handball Föderation (EHF) allerdings, den Klub „aufgrund organisatorischer Ungewissheiten“ in der Champions League nicht zu berücksichtigen und nur in der European League starten zu lassen.

„Das ist eine Entscheidung, die wir nicht ändern können. Dafür spielen wir in der zweithöchsten europäischen Spielklasse und treffen dort auf hochrangige Klubs. In dieser Situation ist das gut für uns. Natürlich haben wir sportliche Ansprüche, aber gerade geht es mehr darum, den Verein und die Mannschaft am Leben zu erhalten“, sagt Savukynas. Bevor es auf internationalem Parkett im Oktober losgeht, läuten die Ukrainer zunächst die neue Bundesliga-Saison in Deutschland ein.

Während üblicherweise die erste Partie des Handballjahres durch den Supercup markiert wird, treffen am Mittwoch zunächst Zaporizhzhia und Zweitliga-Gefährte TSV Bayer Dormagen (16.15 Uhr/Sportdeutschland.tv) in Düsseldorf aufeinander, bevor die Begegnung zwischen dem Deutschen Meister SC Magdeburg und dem deutschen Pokalsieger THW Kiel (19 Uhr/Sky) angepfiffen wird.

„Wir sind bereit und wir wollen unseren Job hier so gut wir können erledigen", sagt Savukynas und betont, dass er und seine Mannschaft unabhängig von der Entwicklung in der Ukraine die Saison in Deutschland zu Ende spielen wollen. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie es um die anderen ukrainischen Teams gerade steht, gegen die wir sonst spielen würden. Und wir wissen ja auch nicht, womit wir in den nächsten Wochen und Monaten rechnen können“, sagt der Coach.

Im Fußball ist der Ligabetrieb in der Ukraine mittlerweile wieder aufgenommen worden. Zuletzt musste ein Spiel jedoch mehrfach wegen Bombenalarm unterbrochen werden. Dass der Handballsport ebenfalls fortgeführt wird, glaubt der 51-Jährige nicht. „Ich habe Schwierigkeiten, mir das vorzustellen. Trotzdem hoffen wir, dass es irgendwann wieder sicher ist, in die Ukraine zurückzukehren. Doch wer weiß, wie lange das dauern wird“, sagt Gintaras Savukynas. An Normalität ist für ihn und sein Team weiter kaum zu denken.

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