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Der Schlusspunkt. Jerzy Dudek hält den letzten Elfmeter von Andrej Schewtschenko.

© KERIM OKTEN/dpa

Kolumne: Meine Champions League: Der FC Liverpool und das Wunder von Istanbul

Mit italienischen Gegnern hat der FC Liverpool gute Erfahrungen: 2005 gelang den Reds gegen den AC Mailand eine der verrücktesten Aufholjagden der Fußballhistorie.

Neulich hat Rafael Benitez mal wieder vorbeigeschaut. Ist ja nicht so weit von Newcastle bis nach Liverpool. Einmal die A1 runter bis nach Liverpool, bei Leeds abbiegen Richtung Westen. Knapp 200 Meilen für eine Reise in eine unvergängliche Vergangenheit. Das Publikum an der Anfield Road hat ihn, den Trainer von Newcastle United, mit Ovationen begrüßt. „Rafas Beziehung zu diesem Klub ist unglaublich positiv“, sprach Jürgen Klopp, Benitez’ Nach-Nach-Nach-Nachfolger beim FC Liverpool. Es hat ihm dann aber ganz gut gefallen, dass seine Mannschaft im sechsten Anlauf beim 2:0 endlich mal ein Spiel gewann gegen den Mann, dem die Reds den größten Erfolg ihrer jüngeren Vereinsgeschichte verdanken.

Es war der Spanier Benitez, der vor 13 Jahren beim irrwitzigsten Champions-League-Finale überhaupt auf der Bank saß. „Ob es das beste Spiel aller Zeiten war? Das sollen andere bewerten“, sagt der ebenfalls beteiligte deutsche Nationalspieler Dietmar Hamann, aber ganz bestimmt sei es „das unglaublichste“. Dieser Superlativ ist grammatikalisch nicht ganz korrekt, aber wer will im konkreten Fall schon so spitzfindig sein?

Am Dienstag empfängt  Liverpool zum Halbfinale der aktuellen Champions-League-Ausspielung die AS Rom. Wieder mal England gegen Italien. So wie an jenem 25. Mai 2005 im Atatürk-Stadion von Istanbul. Damals gegen den AC Mailand, im ersten Finale für Liverpool nach den glorreichen Siebzigern und Achtzigern, als der Wettbewerb noch Europapokal der Landesmeister hieß. Und eigentlich war diese Premiere schon verloren, bevor sie richtig begonnen hatte.

Mit Dietmar Hamann kommt die Wende

Milan hatte eine großartige Mannschaft. Angeführt von Paolo Maldini, dirigiert von Andrea Pirlo, angetrieben vom Brasilianer Kaká, vorn schossen der Ukrainer Andrej Schewtschenko und der Argentinier Hernan Crespo die Tore. Die Kommandos auf der Bank gab der gerade 44 Jahre junge Carlo Ancelotti, wie schon zwei Jahre zuvor beim Finalsieg im italienischen Duell mit Juventus Turin. Seine Mannschaft legte eine erste Halbzeit hin, wie sie besser kaum vorstellbar ist. Nach nicht einmal einer Minute schoss Maldini das 1:0, Crespo legte kurz vor der Pause zwei weitere Tore nach.

0:3 zur Halbzeit – im Stadion macht sich so etwas wie Langeweile breit. In der Kabine hat Benitez Mühe, seine Gedanken zu sortieren. Er will den französischen Verteidiger Djimi Traoré aus dem Spiel nehmen und bekommt gar nicht mit, dass sich dessen irischer Kollege Steve Finnan verletzt hat. Traoré ist schon auf dem Weg zur Dusche, als Benitez sein Missgeschick bemerkt. Dass er zur zweiten Halbzeit den eher defensiv orientierten Arbeiter Dietmar Hamann auf den Platz schickt, wirkt auch nicht wie ein Geniestreich, zu dem er später verklärt wird.

Auf einer DVD mit dem schönen Titel „15 Minutes that shook the world“ wird Benitez in einer nachgestellten Kabinenansprache die Sätze in den Mund gelegt: „Follow the Kraut!“ Und: „He will be like Rommel in his tank!“ Das muss man wohl nicht übersetzen, es hat sich auch nicht so abgespielt. Hamann, Liverpools liebster Kraut, wird später erzählen, niemand habe in der Kabine noch an eine Wende geglaubt. Dass es doch eine gibt, verdankt Liverpool auch ihm. Steven Gerrard schafft nach neun Minuten das erste Tor, das zweite bereitet Hamann zwei Minuten später mit seinem Zuspiel auf Vladimir Smicer vor. Liverpool ist wieder im Spiel. Es dauert weitere vier Minuten, da stürzt Gerrard nach einem minimalen Körperkontakt mit Gennaro Gattuso so spektakulär, wie er das nie in einem englischen Stadion wagen würde. Egal, der spanische Schiedsrichter Manuel Mejuto González entscheidet auf Elfmeter. Den schiebt Xabi Alonso gegen die Hände von Milans Torhüter Dida, aber der zurückprallende Ball springt ihm vor die Füße, und ein zweites Mal lässt er sich nicht bitten.

Dudek lässt Schewtschenko verzweifeln

Ein Wunder kündigt sich an und hätte sich kurz vor Schluss doch beinahe wieder verflüchtigt. Als es drei Minuten vor dem Ende der Verlängerung mal zum Duell des tragischen mit dem strahlenden Helden dieser Nacht kommt. Andrej Schewtschenko hat schon vorher alles verballert, was es an Torchancen gab. Jetzt köpft er aus Nahdistanz erst Liverpools Torhüter Jerzy Dudek an. Das Schicksal flippert ihm den Abpraller zurück auf den linken Fuß, Dudek liegt geschlagen am Boden und schafft des doch irgendwie, den rechten Arm hochzureißen. Schewtschenko kreuzt verzweifelt die Arme über dem Kopf, Dudek gestattet sich ein verwegenes Lächeln.

Es ist die Ouvertüre zum dramatischen Finale. Im Elfmeterschießen trifft Hamann als erster Liverpooler, obwohl er sich zuvor den Mittelfuß gebrochen hat, aber das Adrenalin betäubt alle Schmerzen. Natürlich ist es Schewtschenko, der zur Ausführung des letzten Mailänder Elfmeters antreten muss. Die Verunsicherung ist ihm bis unters Tribünendach anzusehen. Diesmal ist es Dudeks linke Hand, die dem sanften und ungenau platzierten Ball den Weg ins Tor verwehrt. 3:2, Liverpool feiert das Miracle of Istanbul.

Zwei Jahre später treffen beide Mannschaften erneut im Finale aufeinander, diesmal in Athen, gar nicht so weit weg von Istanbul. Milan siegt 2:1, aber wer kann sich daran schon noch erinnern?

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