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Im Kampf um Bronze konnte sich Lennart Sass gegen seinen Gegner aus Usbekistan durchsetzen.

© IMAGO/Ralf Kuckuck

Deutscher Judoka Lennart Sass: Er wollte Gold und bekam Bronze

Nach einer umstrittenen Disqualifizierung im Halbfinale gewinnt der deutsche Judoka Lennart Sass Bronze. Feiern wollte er die Medaille wie Gold.

Von Monja Nagel

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Mit gesenktem Kopf läuft Lennart Sass am Arm des Schiedsrichters auf die paralympische Matte. Erst bei der Verbeugung hebt er das Kinn, beugt den Oberkörper vor seinem Kontrahenten und stellt sich danach kerzengerade hin. Sass krempelt noch einmal die Ärmel hoch, dann greift er im Kampf um Bronze gegen den Usbeken Shokhrukh Mamedov fest zu.

Es ist der dritte von drei Kämpfen am Freitag bei den Paralympics in Paris für den sehbeeinträchtigten Judoka aus Heidelberg. In dem 16-köpfigen Teilnehmerfeld der Startklasse J1 bis 73 Kilogramm trat Sass zuerst gegen den Portugiesen Djibrilo Iafa an und gewann souverän mit einem O-soto-gari, einem traditionellen Judo-Wurf, nach nur einer Minute Kampfzeit. Auch Yergali Shamey hatte Sass im Halbfinale gut im Griff. Gegen den Kasachen führte er mit 1:0 und wollte „die Zeit runterkämpfen“.

Doch dann kam 35 Sekunden vor Schluss die Disqualifizierung fürs sogenannte Eintauchen – eine umstrittene Entscheidung. „Die ist sehr fragwürdig“, sagt Bundestrainerin Carmen Bruckmann. „Ich saß im Warm-up mit Trainern anderer Länder und alle haben gesagt: ‘Hä, warum?’.“ Umstritten hin oder her, der Sportler nahm die Entscheidung schnell an. „Was bleibt mir anderes übrig?“, fragte Sass. „Ich habe es sofort respektiert und umgeschaltet in den Bronze-Kampf.“

Als der 24-Jährige in besagtem Kampf die weiße Uwagi, sprich Baumwolljacke, seines Gegners greift, dauert es keine Sekunde, bis sich beide Judoka in den Kampf stürzen. Sie verlagern ihren Körperschwerpunkt nach unten und Sass schleift den Usbeken mehrere Meter mit sich. Nach zehn Sekunden landen beide erstmals auf der Matte, ringen auf Knien weiter um einen Vorteil.

Der Deutsche hat sich im Mai das Schlüsselbein gebrochen. Für Sass bloß „ein kleiner Dämpfer und nicht erwähnenswert.“ In der Zeit habe er andere Schwächen kompensiert und ausgebaut. Denn in den letzten Jahren sei Paris immer das Ziel nach dem Ziel gewesen. „Mein ganzer Weg hierher war steinig, aber dass ich hier stehen darf, ist die Vollendung meiner sportlichen Entwicklung“, sagte Sass.

Gegen Mamedov zeigt sich der Weltranglistenzweite fokussiert und selbstsicher. Achtet nicht auf die laut geschrienen Anweisungen des usbekischen Trainers und dominiert weitere zwanzig Sekunden Kampf. „Mein heutiges Auftreten kommt zu großen Teilen von dem Selbstvertrauen, das ich mir auf der Matte zurückgeholt habe“, erzählte Sass, der 2005 mit dem Judo begann. Während seiner Jugend entschied er sich zwischenzeitlich für den Handball, wechselte 2016 aber mit seiner vollständigen Erblindung durch die seltene Erbkrankheit Lebersche Optikusatrophie, kurz LOHN, aber zurück zum Kampfsport. „Es war eine Umstellung allgemein im Leben, selbstständig zu werden und mit meinem Schicksal zu leben“, sagte er.

Nach genau 38 Sekunden Kampf wirft Lennart Sass seinen Gegner Shokhrukh Mamedov erstmalig und geht mit 1:0 in Führung. Auf der Tribüne feuert ihn sein persönlicher Fanklub mit gelben „Team Sass“-Shirts lautstark an. Der Student der Rechtswissenschaften bleibt ganz bei sich, atmet zwei Mal tief durch und nimmt erneut Kontakt zum Usbeken auf.

Diese mentale Stärke zeichnet Sass schon immer aus. Von anderen wird er als „mentales Biest“ bezeichnet, von sich selbst sagt er, dass er da wäre und kämpfen wolle, wenn es drauf ankäme. „Das ist meine Stärke“, stellt er klar.

Lennart Sass kämpfte am Freitag um Bronze – im Halbfinale wurde er aufgrund eines gefährlichen Wurfs disqualifiziert.

© IMAGO/Ralf Kuckuck

Sicher war auch, dass nach dem Ausscheiden im Halbfinale der Traum von Gold geplatzt war, der vom Sportler und der Bundestrainerin als realistisch erachtet wurde. „Als Kämpfer gehe ich hier auf die Matte, um Gold zu holen“, sagt Sass. „In den Qualifikationen vor Paris habe ich gezeigt, dass ich alle schlagen kann. Ich bin in Bestform.“ Auch Trainerin Bruckmann hatte ihm die größten Medaillenchancen zugerechnet. „Ich traue es ihm zu. Er ist der Stabilste und Professionellste aus dem deutschen Team.“

Das konnte er auch beim Sieg gegen den rumänischen Weltranglistenersten Florin Alexandru Bologa beim Grand Prix im Februar zeigen. Diese Begegnung sei auch seine gewünschte Finalbegegnung gewesen, erzählte er vor den Paralympics in Paris.

Umso ärgerlicher die Disqualifikation im Halbfinale. Doch Sass findet schnell den Fokus, für ihn ist „schnell Bronze das neue Gold“. Und so kämpft er auch, als er nach 51 Sekunden Kampfzeit den Usbeken aushebelt und per Ippon, der Wurf mit der höchsten Wertung, zu Fall bringt. Die Halle applaudiert, während Sass erleichtert die Augen schließt und die Hände zu Fäusten ballt. Er küsst seine beiden Knöchel, bevor er sie in die Luft reckt. Tiefes Luftholen, eine letzte Verbeugung. Dann fällt er erst seinem Gegner Mamedov und anschließend seinem Coach in die Arme.

Mein ganzer Weg hierher war steinig, aber dass ich hier stehen darf, ist die Vollendung meiner sportlichen Entwicklung.

Lennart Sass

„Eine Medaille war das Ziel, jetzt ist es erreicht. Auch wenn man sich vielleicht eine andere Farbe gewünscht hätte“, sagte die Bundestrainerin. Sass war etwas euphorischer: „Ich bin verdammt stolz, dass es hier bei meinen ersten Spielen eine Medaille geworden ist.“

Der 24-Jährige fährt als erster Deutscher aus dem Para Judo Team mit einer Medaille nach Hause – und zuvor ins Deutsche Haus. „Party kann ich, ich habe auf jeden Fall Bock, die Medaille zu feiern“, versprach Sass nach dem Wettkampf. „Ich werde so lange durchfeiern, bis morgen früh mein Mannschaftskollege auf der Matte steht.“ Gemeint ist Daniel-Rafael Goral, der am Samstagvormittag bei den Männern bis 90 Kilogramm antrat und den siebten Platz belegte.

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