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Johannes Floors

© IMAGO/Norbert Schmidt

Die Klassifizierung bei den Paralympics: „Es gibt immer wieder Sportler, die bescheißen“

Um für faire Wettbewerbe zu sorgen, sind die Athleten in verschiedene Startklassen eingeteilt. Doch seit Jahren gibt es Diskussionen um das System – und schwere Vorwürfe.

Von
  • Svea Frey
  • Monja Nagel

Stand:

Rollstuhlbasketballerin Lena Knippelmeyer verdeutlicht die Notwendigkeit der Klassifizierung am Beispiel des 100-Meter-Laufs bei den Paralympics. „Wir können uns nicht alle an eine Startlinie stellen und schauen, wer als Erstes ankommt“, sagt die 34-Jährige: „Wir sind nicht alle gleich.“ Und genau aus diesem Grund wird es in Paris bei den Männern 16 und bei den Frauen 13 Entscheidungsrennen über die 100 Meter geben.

Mit „wir“ meint Knippelmeyer die Para-Sportlerinnen und -Sportler im Allgemeinen, die zur Teilnahme an den Paralympics mindestens eine der folgenden zehn Beeinträchtigungen aufweisen müssen: Beeinträchtigung der Muskelkraft, Beeinträchtigung der passiven Beweglichkeit, Amputationen oder Fehlbildung von Gliedmaßen, unterschiedliche Beinlängen, Kleinwuchs, Muskelhypertonie, Ataxie, Athetose, Beeinträchtigung der Sehfähigkeit oder intellektuelle Beeinträchtigung.

Innerhalb dieser Wettkampfklassen soll die Klassifizierung für mehr Chancengleichheit sorgen. Nicht die Behinderung soll entscheidend sein, sondern die individuellen Fähigkeiten. Bei einer Untersuchung von einem medizinischen und technischen Expertenteam wird die Schwere der Beeinträchtigung festgestellt, nach der die Einteilung in die Startklasse erfolgt. Demnach können auch Para-Sportlerinnen und -Sportler mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen aufeinandertreffen.

Für jede Sportart gibt es ein eigenes Klassifizierungssystem, das auf nationaler als auch auf internationaler Ebene denselben Richtlinien folgt. In Deutschland werden diese durch Leitlinien ergänzt, die dafür sorgen sollen, dass auch Menschen ohne Behinderungen im Para-Sport aktiv sein können.

Wir können uns nicht alle an eine Startlinie stellen und schauen, wer als Erstes ankommt.

Lena Knippelmeyer, Rollstuhlbasketballerin

Im Rollstuhlbasketball etwa sind im deutschen Ligasystem durch die Abstufung in einem Punktesystem behinderte, minimalbehinderte sowie nicht behinderte Athletinnen und Athleten spielberechtigt. So soll niemand von der Sportart ausgeschlossen werden. „Es ist ein ganz klarer Inklusionssport. Jeder darf mitmachen“, sagt Knippelmeyer.

Bei den Paralympics ist das jedoch anders. Der Weltverband im Rollstuhlbasketball musste 2020 auf Druck des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) seine Richtlinien zur Klassifikation überarbeiten. Der Sportart drohte damals, für die Spiele in Paris aus dem Programm zu fliegen. Bei der Reform ging es in erster Linie um die Zulassung von Spielerinnen und Spielern mit einer Minimalbehinderung. Einige von ihnen waren dem IPC demnach nicht genug behindert.

So auch Knippelmeyer. Sie wurde bei einer Untersuchung im Rahmen der EM 2021 in Madrid „ausklassifiziert“, weil ihr drei Grad Streckdefizit im Bein fehlten. Nach ihrem Protest wurde sie im vergangenen Jahr neu klassifiziert. Sie hätte in Paris also doch noch starten können, wurde aber für den Nationalkader nicht berücksichtigt.

„Die Klassifizierung vor drei Jahren hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt“, sagt Knippelmeyer. Im Zuge der neuen Richtlinien erging es etlichen Aktiven in ihrer Sportart so.

Neue Regeln ab 2025

„Eine Verschlechterung meiner Grunderkrankung wäre besser für die Klassifizierung“, sagt auch Para-Leichtathletin Lindy Ave, bei der eine leichte Spastik diagnostiziert ist: „Je mehr sie sich verbessert, umso schlechter stehe ich da.“ Immer wieder wird Sportlerinnen und Sportlern auch unterstellt, ihre Einschränkungen bei der Untersuchung zu betonen, um in einer niedrigeren Startklasse eingruppiert zu werden und damit – vor allem in Individualsportarten – die eigenen Erfolgsaussichten zu erhöhen.

„Das kann ich niemandem verdenken, dass er da versucht, in eine möglichst gute Klasse zu kommen“, sagt Karl Quade, Chef de Mission der deutschen Paralympics-Delegation, und gibt zu bedenken: „Eigentlich sollte jeder Sportler immer das Beste zeigen, was er kann. Aber ob das wirklich der Fall ist – da wäre ich vorsichtig.“

Auch die deutsche Para-Schwimmerin Verena Schott zeigte sich im vergangenen Jahr im Deutschlandfunk frustriert: „Es gibt immer wieder Sportler, die bescheißen“, sagte sie. Die zweifache Bronze-Medaillengewinnerin von Tokio, die auch in Paris an den Start gehen wird, richtete ihre Vorwürfe dabei auch an das eigene Team. „Man würde lügen, wenn man sagt, dass das nicht auch in Deutschland der Fall ist“, sagte Schott. Die Trainer würden den Betrug quasi unterstützen. Solche Vorwürfe sind der Paralympics Zeitung auch von einer anderen Person bekannt, die öffentlich nicht darüber sprechen möchte.

Rollstuhlbasketballerin Lena Knippelmeyer wurde für Paris nicht berücksichtigt.

© IMAGO/Beautiful Sports

Die Klassifizierung ist so zu einem heiklen Vorgang geworden. Auf der einen Seite die Klassifizierer, die auch herausfinden müssen, ob jemand betrügt. Auf der anderen Seite die Sportlerinnen und Sportler, die sich ungerecht behandelt und teilweise schikaniert fühlen. „Wenn jemand behauptet, man macht nicht richtig mit oder man würde sich dumm anstellen“, sagte Josia Topf während der Tokio-Spiele im Sportschau-Interview: „Dann ist das für einen Behinderten eine immense Demütigung, die sich eigentlich nicht in Worte fassen lässt.“

Auch Lena Knippelmeyer saß 2021 als eine von vielen Rollstuhlbasketballerinnen „nur mit einer Unterhose und drei Leuten um mich herum in einem Zelt“. Sie beschreibt es als „sehr unangenehm, wenn man die Beine da und dort hinmachen soll und jeder schaut sonst wohin“. In einer ohnehin schon unangenehmen Prüfungssituation, in der bis zu drei Fremde über den eigenen Körper urteilen, werde einem das Gefühl vermittelt, „würde man weniger Punkte bekommen, wäre man mehr wert“, sagt sie. Auch für Lindy Ave sei der Vorgang „sehr stressig“.

Karl Quade betont, die Klassifizierung müsse valide sein. „Diesem Anspruch muss man viel unterstellen“, sagt er: „Bei einer Dopingprobe muss man auch die Hose runterlassen und das Hemd hochziehen.“ Bestimmte Prozeduren, so heißt es also von offizieller Seite, müssten hingenommen werden. Doch der Para-Sport muss sich schon lange die Frage gefallen lassen, ob das aktuelle System das sinnvollste und für die Teilnehmenden fairste ist.

In den vergangenen drei Jahren wurde nun über neue Regeln diskutiert, die den bisherigen Kodex aus dem Jahr 2015 ersetzen sollen. In einem dreiphasigen Konsultationsprozess wurde dieser neue Kodex mithilfe von Athleten, Klassifizierern und einem Großteil der IPC-Mitglieder erarbeitet und verabschiedet.

Das Hauptziel dieser Überarbeitung, die national ab 2025 und international nach den Winter-Paralympics 2026 greift, soll für mehr Transparenz bei den Klassifizierungen und Bewertungen sorgen. Außerdem wurde ein neuer internationaler Standard entwickelt, der die Verfahren zur Erkennung, Untersuchung und Bearbeitung absichtlicher Fehldarstellungen im Klassifizierungsprozess definiert. Beim Deutschen Behindertensportverband begrüßt man die Neuerung: „Das ist aus meiner Sicht genau richtig“, sagt Teambetreuer Quade.

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