
© AFP
Neue Heimstärke in der Bundesliga: Die Macht des Wohnzimmers
Jedes zweite Spiel in dieser Bundesliga-Saison endet mit einem Heimsieg. Eine solche hohe Quote hat es seit Jahren im deutschen Fußball nicht mehr gegeben.
Stand:
Hans Meyer, der frühere Trainer von Hertha BSC, ist in der öffentlichen Wahrnehmung oft ein wenig einseitig weggekommen. Weil er am Ende seiner beruflichen Laufbahn mehrmals erfolgreich als Retter notleidender Fußballmannschaften eingesprungen ist, wurde Meyer der Einfachheit halber im Fach Motivator abgelegt. Aber dieses Etikett ist ihm nie gerecht geworden. Meyer hat bei seiner Arbeit einen eher ganzheitlichen Ansatz verfolgt, sich auch den Methoden der Wissenschaft nicht verschlossen. So hat Hans Meyer zum Beispiel die Hans- Meyer-Tabelle erfunden, ein Instrument zur objektiven Leistungsermittlung.
Die Hans-Meyer-Tabelle geht von der Grundannahme aus, dass Heimspiele leichter zu gewinnen sind als Auswärtsspiele. Für Heimsiege gibt es in Meyers Tabelle keine Punkte, für Unentschieden vor eigenem Publikum zwei Minuspunkte, für Niederlagen sogar drei. Bei Auswärtsspielen ist es umgekehrt. Alles andere als eine Niederlage ist Bonus. Mit dieser Form der Berechnung kommt Meyer zu einer Tabelle, die weniger von Zufälligkeiten abhängt, zum Beispiel davon, ob eine Mannschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt der Saison schon mehr Heimspiele bestritten hat als eine andere und damit eindeutig im Vorteil wäre.
Aber ist das wirklich so? Vor ein paar Jahren ist der Heimvorteil offiziell abgeschafft worden. Auswärts ist das neue Zuhause, hieß es da – was auch statistisch zu belegen war. Der Anteil der Heimsiege sank in der Bundesliga von 56 Prozent (1987/88) auf den historischen Tiefstwert von knapp 41 Prozent in der Saison 2009/10. Kurz danach hat die Bundesliga einen bis heute gültigen Rekord aufgestellt. Am zweiten Spieltag der Saison 2010/11 gab es in neun Begegnungen sieben Auswärtssiege. Erklärt wurde dieses Phänomen damit, dass es für viele Mannschaften grundsätzlich leichter sei, zu reagieren, als selbst das Spiel zu machen. Auf diese Weise haben Inter Mailand und der FC Chelsea (jeweils gegen die Bayern) sogar die Champions League gewonnen.
In der Bundesliga war Hannover 96 der prominenteste Vertreter des eher reaktionären Fußballs. Die Mannschaft von Mirko Slomka hat das sogenannte Umschaltspiel bis zur Perfektion getrieben, nach Ballgewinn sollte der Gegenangriff innerhalb von zehn Sekunden abgeschlossen werden, um den Gegner im Zustand maximaler Unordnung zu erwischen. „Wir verteidigen, um anzugreifen“, hat Slomka den Stil seines Teams einmal beschrieben. Inzwischen ist es eher so, dass die Spieler angreifen, um zu verteidigen.
Viele Heimteams spielen mittlerweile mit einer anderen Taktik
Der Trend scheint sich gerade wieder umzukehren. Ballbesitz gilt längst als rehabilitiert – und das nicht nur, weil mit Pep Guardiola der Hohepriester des Ballbesitzfußballs in die Bundesliga gewechselt ist. Acht Spieltage sind in der aktuellen Saison gespielt, und so viel Heimstärke war lange nicht mehr. Von 72 Begegnungen endeten 36 mit Siegen der Gastgeber, jede zweite also. Nur in jeder vierten Partie gab es einen Erfolg der Auswärtsmannschaft.
Weniger Heimniederlagen zum gleichen Zeitpunkt einer Saison gab es zuletzt 2006/07 (16), mehr Heimsiege 2000/01 (38), also gewissermaßen weit vor Erfindung des modernen Fußballs. Drei Bundesligisten (Bayern, Dortmund, Mönchengladbach) haben bisher alle ihre Heimspiele gewonnen, das gab es zuletzt in der Saison 1991/92. Immerhin sechs Teams sind in dieser Spielzeit zu Hause noch ungeschlagen. Der Aufsteiger Hertha BSC hat im Olympiastadion schon dreimal gewonnen, in der Fremde noch gar nicht. Bei Borussia Mönchengladbach, dem Gegner der Berliner an diesem Wochenende, ist es ähnlich. Zu Hause holten die Gladbacher zwölf Punkte, auswärts einen einzigen. Noch auffälliger ist die Diskrepanz bei Wolfsburg und Hannover, die beide sämtliche Punkte vor eigenem Publikum erbeutet haben und in der Fremde komplett leer ausgegangen sind.
Ist das noch eine Momentaufnahme oder schon ein stabiler Trend? Frank Wormuth, Trainerausbilder des Deutschen Fußball-Bundes, gibt zu, dass er sich mit dem Phänomen noch nicht befasst hat. „Eigentlich war das doch immer so“, sagt er. „Zu meiner Zeit als Spieler hat man gesagt: Das hat was mit Selbstvertrauen zu tun. Damit, dass man zu Hause mit dem Gefühl ins Spiel geht: Hier sind wir eine Macht.“
Möglicherweise spielt dieses psychologische Moment auch heute eine wichtige Rolle – verbunden mit dem neuesten Taktiktrend: dem sogenannten Gegenpressing. „Fast alle Mannschaften spielen das inzwischen: Wenn sie in des Gegners Hälfte den Ball verlieren, gehen sie gleich vorne wieder drauf“, sagt Wormuth. „Die Auswärtsteams kommen dadurch gar nicht mehr in Kontersituationen.“
Borussia Dortmund beherrscht dieses Spiel nahezu perfekt, egal ob die Mannschaft zu Hause oder auswärts antritt. Aber selbst ein Außenseiter wie der FC Augsburg verteidigt im eigenen Stadion inzwischen mutig nach vorne. In der Fremde mögen viele Teams noch automatisch in ihre alte Verteidigungshaltung zurückfallen und sich nach Ballverlusten weit zurückziehen; zu Hause aber gehen sie forsch auf die Jagd nach dem Ball, weil sie das Gefühl haben: Hier kann uns keiner was. Das war auch früher schon so. Manche Dinge sind also selbst im modernen Fußball alles andere als schrecklich neu.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: