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Dorf d’Amour bei den Paralympics: Hier entstehen nicht nur Freundschaften
Während Corona gab es die berühmten Kondome in Tokio und Peking nur als Souvenir. In Paris ist nun alles beim Alten – aber was heißt das eigentlich?
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„Fast wie ein Volksfest“, beschreibt die ehemalige Para-Schwimmerin Kirsten Bruhn das Athletendorf bei den Paralympics. Die Freizeitangebote für die Sportlerinnen und Sportler reichen von Kosmetikeinrichtungen, wie Friseur und Nagelstudio, bis zu Spielautomaten, Karussells und Bars. Es gibt Merchandise-Shops, Public Viewings und Autohäuser von Sponsoren. „Das war schon exorbitant“, findet Bruhn, die auf insgesamt drei Paralympics-Teilnahmen zurückblickt.
Nachdem die beiden vergangenen Paralympics von der Corona-Pandemie geprägt waren – Kontaktbeschränkungen, Masken, Desinfektion – kehrt in Paris wieder Gewohnheit ein. Und somit auch die berühmtberüchtigten Kondome, die während der letzten Spiele erst am Ende als Souvenir verteilt wurden, nun aber wieder bei den Olympischen Spielen und Paralympics zu hunderttausenden im Dorf verteilt werden und ausliegen.
Alte Rituale und neue Bekanntschaften
Die über 4000 Sportler, die im Dorf im Norden von Paris zusammenleben werden, können sich also freuen auf alte Rituale, alte Ausgelassenheit – und so manche neue Bekanntschaft. Viele von den Athletinnen und Athleten kennen ihre internationale Konkurrenz bereits, oftmals sogar besser als die Teilnehmer anderer Sportarten aus ihrer eigenen Nation. Es sind dabei sogar nachhaltige Freundschaften entstanden, in denen man sich auch gegenseitig besucht, erzählt Bruhn.
Auch der ehemalige Speerwerfer Mathias Mester, Silbermedaillengewinner bei den Paralympics 2008, kennt die Vorfreude auf das Wiedersehen bei dem Großevent: „Man geht aufeinander zu, verbringt Zeit, da hat man einfach Bock drauf.“ Mit anderen, die man nicht so mag, pflege man eben ein neutrales Miteinander: „Man sagt Hallo und Tschüss oder wechselt mal ein paar Worte.“
Natürlich gehe es bei den Paralympics um Gemeinschaft und Miteinander, aber in erster Linie sei man natürlich dort, um zu zeigen, wofür man trainiert hat – da möchte sich nicht jeder ablenken lassen. „Übergreifende Kommunikation wird trotzdem gepflegt“, erzählt Karl Quade, der seit 28 Jahren Teambetreuer der Deutschen ist. In den Unterkünften solle die Kontaktfreudigkeit jedoch begrenzter sein – dass einige Kandidatinnen und Kandidaten hin und wieder in fremden Häusern verschwinden, ist jedoch kein Geheimnis mehr.
2004 in Athen wurde Quade mal wegen einer deutschen Athletin von der Delegation der Amerikaner einbestellt. „Deren Chef de Mission sagte mir, dass ich unserer Sportlerinnen doch bitten sagen solle, nicht immer zu denen ins Haus zu kommen“, erinnert sich Quade und lacht. Heute sind die ehemaligen Para-Leichtathleten Katrin und Roderick Green seit vielen Jahren verheiratet.
Auch die beiden ehemaligen Para-Schwimmer, Stephanie Weinberg aus Deutschland und der Niederländer Swen Michaelis, lernten sich 2008 im Dorf von Peking kennen und heirateten später. Die deutsch-australische Para-Leichtathletin Vanessa Low traf ihren heutigen Ehemann, den früheren australischen Sprinter Scott Reardson, im paralympischen Dorf in London 2012. Vor gut zwei Jahren wurden sie Eltern eines Sohnes. In Paris startet Low im Weitsprung.
Nach den Wettkämpfen fallen die Hemmungen
Doch natürlich schlagen die Herzen auch mal für ein Teammitglied im eigenen Haus. Karl Quade selbst erwischte es 1984 bei den Paralympics in New York, wo er damals im Sitzvolleyball die Goldmedaille gewann. „Und wie das dann bei Spielen so ist“, sagt er schmunzelnd, „guckt man sich da dann auch mal um.“ Hängen blieb sein Blick an einer deutschen Para-Leichtathletin – „und das waren dann natürlich aufregende Spiele, wenn man frisch verliebt ist“. Bis heute seien die beiden glücklich verheiratet.
Doch nicht aus allem muss was Festes entstehen – einige wollen eben einfach ihren Spaß haben. „Am Anfang ist es noch ein Abtasten“, erinnert sich Mathias Mester. Da herrsche dann ein lockerer Umgang und man „will auch entsprechend Kontakt und Menschen um sich herum haben“, sagt die 54-jährige Kirsten Bruhn. „Keiner geht ja in die Disco mit schlechter Laune, sondern weil du einfach Spaß haben willst, tanzen und Leute kennenlernen“, findet die dreimalige Goldmedaillengewinnerin. Mit zunehmender Dauer der Spiele, wenn viele ihre Wettkämpfe hinter sich haben, fallen auch zusehends die Hemmungen im Dorf. „Wenn der Druck weg ist, genießt man natürlich alles mehr“, sagt Mester, der kurz vor den Spielen in Tokio seine Karriere beendet hatte: „Und desto doller wird dann auch gefeiert.“
Im Deutschen Haus haben Niko Kappel und ich schon immer sehr Gas gegeben.
Mathias Mester
Besonders ausgelassen beim Feiern seien die Niederländer, berichtet Deutschlands Chef de Mission, Karl Quade. Die Australier spielten und spaßten gerne mit dem gigantischen Känguru vor ihrer Tür. Die mittel- und südamerikanischen Länder, wie Mexiko, seien auch immer sehr präsent, „da geht die Post ab, einfach auch von der Menge her“. Auch in den afrikanischen Nationen werde viel miteinander getanzt und gesungen. „Deutsche, Schweizer und Österreicher, die sind da nicht ganz so extrovertiert, was das Feiern angeht“, sagt der 69-Jährige – was der 37-jährige Mester, der 2022 über Let’s Dance einem größeren Publikum bekannt wurde, anders sieht.
„Im Deutschen Haus haben Niko Kappel und ich schon immer sehr Gas gegeben.“ Was er damit wohl meint? „Ich weiß nicht, ob man das sagen darf“, lacht Mester. Nach ihren Wettkämpfen hätten der auch in Paris antretende Kugelstoßer Kappel und er die Menge auf Partys angeheizt. Mester selbst könne sich noch erinnern, wie er 2016 in Rio mit DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher in voller Montur im Pool gelandet sei. „Da ging‘s dann schon rund“, sagt er.

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Kondome als Trophäen
So hat jede Generation ihre eigenen Geschichten. Zu seinen Sportlerzeiten, wie 1988 in Seoul, erinnert sich Quade, „war Fahnen mitnehmen so ein Ritual im Dorf“. Als er mit einem Mannschaftskollegen gerade auf einem Mast mit dem Messer zugange war, sei damals die Dorfpolizei vorbeigekommen. „Wir dachten: Jetzt werden wir die Heimreise wohl nicht mehr antreten.“ Doch der Polizist begann dabei zu helfen, die Fahne runterzuholen. Ob er heute so ein Verhalten von seinem Team dulden würde? Er zuckt mit den Schultern.
Und jetzt zu den Kondomen! „Die sind in der Regel Erinnerungsstücke und werden als Trophäen mitgenommen“, sagt Quade. Doch auch da ist Mester anderer Auffassung. „Ich glaube, dass Herr Quade vieles nicht mitbekommen hat“, sagt Mester. „Ich sag mal so: Wir hatten Spaß. Bei so vielen Menschen findet sich der ein oder andere eben gut.“
Grundsätzlich gilt: Was im Dorf passiert, bleibt im Dorf! Doch auch wenn die Romanzen meist nicht bekanntgegeben werden, lässt sich manches zusammenreimen. Schmunzelnd erinnert sich Mester noch daran, wie ein Sportler dabei erwischt wurde, wie er beim Automaten im Essenszelt Kondome zog – und alle, die das mitbekamen, jubelten und lachten.
Die Sache mit den Kondomen wird jedoch nicht nur positiv aufgefasst. Kirsten Bruhn bedauert die mediale Präsenz der Kondome und findet, dass Sensibilität und Aufmerksamkeit auf anderem Weg generiert werden sollten. „Das ist ein Thema für sich und hat mit dem Sport nichts zu tun.“
Mathias Mester ist der Meinung, dass „das kein Tabu-Thema ist und uns alle was angeht“. Kondome hin oder her – bedeutend sei, den Fokus nicht aus den Augen zu verlieren. Und dieser ist nach wie vor der Sport und die Leistung der Athletinnen und Athleten – und zwar nicht die im Bett.
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