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Lindy Ave will ihren Titel über die 400 Meter verteidigen.

© IMAGO/Beautiful Sports

Drei Jahre, drei Frauen, drei Geschichten: „Ich hatte ein Ziel und nicht viel Zeit“

Die Paralympics in Tokio wurden wegen Corona verschoben. So vergingen erstmals nur drei Jahre bis zu den nächsten Spielen. Dieser Zeitraum hatte es für drei Sportlerinnen in sich.

Von
  • Monja Nagel
  • Svea Frey
  • Anna von Gymnich

Stand:

Lindy Ave hatte in Tokio mit ihrem Weltrekordlauf über 400 Meter für eine Sensation gesorgt. Die 23 Jahre alte Greifswalderin, die seit ihrer frühesten Kindheit mit Zerebralparese lebt, wollte nun groß angreifen und ihren Traum leben. Doch dann wurde sie 2021 unverhofft schwanger – und ist heute Leistungssportlerin und Mutter. Hier erzählt sie davon.

Eine Minute für die Ewigkeit, auf die Millisekunde genau: In 1:00,00 Minute knackte ich bei den Paralympics in Tokio im strömenden Regen den Weltrekord und lief über 400 Meter zu Gold. Bronze kam über 100 Meter noch obendrauf. Ich befand mich auf dem absoluten Höhepunkt meiner Karriere und erntete die Früchte aus sieben Jahren Leistungssport – und wurde kurz darauf schwanger.

Nach den Spielen 2021 ging bei mir alles drunter und drüber. Zum ersten Mal brauchte ich die hohe Doppelbelastung aus Beruf und Sport nicht mehr, sondern konnte allein mit dem Sport meinen Lebensunterhalt verdienen. Dank meiner Erfolge in Tokio wurde ich in die Fördergruppe der Bundeswehr aufgenommen und von der Sporthilfe finanziell unterstützt.

Ein Termin jagte in dieser Zeit den nächsten. Interviews, Fernsehdrehs und das Treffen des „Clubs der Besten“, bei dem alle olympischen und paralympischen Top-Sportler zusammenkommen, um sich während einer sportlichen Woche besser kennenzulernen. Um Weihnachten herum fuhr ich wie jedes Jahr nach Hause. Ich hatte Schmerzen im rechten Unterbauch und dachte, es wäre der Blinddarm, aber dann stellte sich heraus, dass ich schwanger war.

Im Januar 2022 bin ich dann noch die deutschen Meisterschaften gelaufen und habe meiner Bundestrainerin Bescheid gegeben, dass ich für den Rest des Jahres aussetzen werde. Alle glaubten daran, dass ich nach der Schwangerschaft weitermachen könnte, und hielten sogar einen Start in Paris für möglich. Alle außer mir. Ich dachte anfangs, ich würde das sowieso nicht packen, aber dann habe ich zu mir gesagt: Ich ziehe das jetzt bis zu den Paralympics durch und gehe danach meinen eigenen Weg. Also habe ich bis zum sechsten Monat trainiert. Gewisse Übungen ließ ich aus oder musste sie reduzieren. Aber Laufen ging immer.

Im August 2022 wurde ich schließlich Mutter eines kleinen Jungen. Ich habe mir eingeredet, ich würde das alles schon irgendwie schaffen, und gab Paris offiziell als Ziel aus. Vier Monate nach der Geburt fing ich wieder mit dem Sport an, und als mein Sohn ein halbes Jahr alt war, trainierte ich zweimal pro Tag. Ich hatte ein Ziel und nicht viel Zeit. Nur noch etwas über ein Jahr blieb mir, um wieder fit zu sein und die Norm für Paris zu schaffen. Es war nicht einfach – erst recht nicht, wenn man auch mal weniger trainieren muss, weil man alleinerziehende Mutter ist. Ich nehme meinen Sohn so häufig mit, wie es geht, aber das funktioniert eben nicht immer.

Ich habe schon an zwei Paralympics teilgenommen, aber Paris wird ganz anders werden für mich. Zum ersten Mal werde ich die Eröffnungsfeier miterleben, weil meine Starts nicht wie sonst gleich am nächsten Tag angesetzt sind. Und ich gehe zum ersten Mal als Mutter ins Rennen. Mein zweijähriger Sohn wird zu Hause bei seiner Oma bleiben, wir werden uns drei Wochen lang nicht sehen. Ich versuche mich in dieser Zeit so gut es geht auf den Sport zu konzentrieren – auch weil ich weiß, dass mein Kind in guten Händen ist.


Paralympics-Siegerin Elena Semechin

© IMAGO/camera4+

Elena Semechin erhielt kurz nach ihrem Paralympics-Sieg von Tokio eine Krebsdiagnose. Die sehbeeinträchtigte Schwimmerin, 28, nahm den Kampf auf und schaffte bald ihr Comeback im Becken. Hier erzählt die deutsche Bundestrainerin Ute Schinkitz aus einer Zeit, die das ganze Team sehr berührte.

Als Elena vor drei Jahren in Tokio ihre erste Goldmedaille bei den Paralympics gewonnen hatte, habe ich sie überglücklich erlebt. Das ganze Team und ich als ihre Bundestrainerin haben uns riesig für sie gefreut. Ein solcher Moment bei Sommerspielen ist einfach das Größte und Schönste, was man sich als Sportlerin vorstellen kann.

Im Oktober, nur etwa sechs Wochen später, rief mich dann ihr Trainer und jetziger Ehemann Phillip Semechin an und erzählte mir, dass bei Elena ein Hirntumor diagnostiziert worden war. Es war ein riesiger Schock für uns alle, denn die Prognose war nicht unbedingt gut. Eben hatte man noch vor Freude geweint – und im nächsten Moment weint man wieder, aber dann leider aus ganz anderen Gründen. Hoffnung machte mir, dass ich Elena als eine absolute Kämpferin kennengelernt hatte.

Es war keine einfache Zeit. Elena und ihr Trainer standen 2022 vor einer schwierigen Frage. Es gibt die einen, die sich nach einer solchen Diagnose einschließen und warten, bis die Chemotherapie vorbei ist. Elena aber wollte dem Krebs nicht den Sieg überlassen, sie wollte trotz der Operation und Bestrahlung weiter schwimmen. Ich bin da sehr dankbar für ihr gutes, auch medizinisches Umfeld, das ihren Weg eng und verantwortungsvoll begleitet hat. Trotzdem bleibt auch immer ein Fünkchen Angst. Das Leben ist doch viel zu schön, um irgendwelche Risiken einzugehen. Man hofft einfach, dass sie sich nicht selbst überfordert und richtig einschätzt.

Elena und ihr Trainer haben wirklich das Bestmögliche aus der ganzen Situation rausgeholt. Wie die beiden das Training gesteuert und Dinge probiert haben, verdient meinen größten Respekt. Elena profitierte dabei auch von ihrem früheren Training, sie konnte sich relativ schnell wieder die Reize holen, die sie sich einmal antrainiert hatte. Und jedes Mal, wenn ich sie auf der Startbrücke sehe, ist das immer wieder unglaublich und umwerfend. Da steigen mir die Tränen in die Augen, weil mich das emotional sehr mitnimmt, was die junge Frau da leistet.

Sie war ja auch jedes Mal wieder top. Ich weiß noch, wie sich Elena im Juni 2022 ärgerte, dass sie bei der WM so knapp Zweite geworden war – und wir anderen waren alle einfach nur erstaunt und glücklich. Aus meiner Sicht war allein die Tatsache, dass sie da überhaupt um die Wette schwamm, absolut beeindruckend. Da ist mir dann das Auftreten von Elena viel wichtiger als die Medaille. Schließlich sendet das auch ein Signal an das ganze Team.

Wenn Elena etwas anfasst, dann macht sie das zu 100 Prozent. Das ist auch das, was mir an ihr so imponiert. Ihre Lebensfreude – und diese absolute Willensstärke, ihre Konzentriertheit und der Fokus auf den eigenen Weg. In Paris will sie ihren Titel verteidigen und dabei Bestzeit schwimmen! Und so überwältigend, wie das eben klingt: In Elenas Fall wäre das ja ein neuer Weltrekord.


Paralympics-Starterin Jule Roß

© IMAGO/Beautiful Sports

Jule Roß hatte nie den Plan, im Leistungssport aktiv zu sein. Dann ging alles ganz schnell. Vor gerade mal zwei Jahren wurde die 18-Jährige, die mit einem verkürzten Arm zur Welt kam, auf ein Para-Leichtathletik-Event bei Bayer Leverkusen aufmerksam. Glücklicherweise liegt die Trainingsstätte des Vereins nur wenige Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. Hier erzählt sie von ihrem Aufstieg.

Wenn mir jemand vor drei Jahren gesagt hätte, dass ich mal zu den Paralympics fahre, ich hätte das niemals geglaubt. Allein schon meine Nominierung in den WM-Kader der Para-Leichtathleten kam ja völlig überraschend!

Vor einem Jahr stand ich dann da also bei den Weltmeisterschaften in Paris und war völlig außer Atem. Nach dem Finale über 400 Meter hatte ich sogar zuerst vergessen, auf der Anzeigetafel nach meiner Zeit zu schauen. Ich brauchte ein paar Momente, meine Beine brannten und ich fühlte mich so müde wie nie zuvor – und dann der Schock: 58,78 Sekunden! Ein Gefühl des vollkommenen Glücks nahm mich ein, ich konnte es kaum glauben. Das war neue persönliche Bestleistung und erfüllte sogar die Norm für eine Teilnahme bei den Paralympics! Niemals hätte ich das für möglich gehalten, aber es war wirklich wahr: Ich war Vierte geworden – bei meiner ersten WM! Ich wischte die Freudentränen weg und rannte zu meinen Teamkollegen.

Schon surreal, wie schnell sich alles verändert hat. 2021 saß ich mit 15 Jahren noch vor dem Fernseher und verfolgte die Paralympics in Tokio eher zufällig. Meine eigenen sportlichen Erfahrungen hatte ich bis dahin im normalen Sport gesammelt. Als Kind war ich mal im Leichtathletik-Verein, danach habe ich eine Zeit lang Tennis gespielt. Vor zwei Jahren sah ich dann auf Social Media eine Ankündigung für das „Heimspiel“ von Bayer 04 Leverkusen, eines der größten Events für den Para-Sport in Deutschland. Mit meinem Handy in der Hand bin ich zu meinen Eltern gelaufen und wusste ganz genau: Das will ich machen!

Mittlerweile trainiere ich dort fünf bis sechs Mal die Woche zwischen zwei und drei Stunden am Tag. Ich habe nicht mehr so viel Freizeit wie früher, aber die freie Zeit, die mir bleibt, verbringe ich am liebsten mit meiner Familie und meinen Freunden. Insgesamt gibt mir der Sport aber so viel mehr als das, was er mir nimmt. In der Trainingsgruppe haben wir alle die gleichen Träume und Ziele und legen alles rein, um uns weiter zu verbessern.

Auch was meine Behinderung betrifft, bin ich in den letzten zwei Jahren viel selbstbewusster geworden und gehe offener damit um. Früher dachte ich immer, ich bin die Einzige, die das hat. Und jetzt habe ich durch den Sport ein paar Freunde gefunden, die das Gleiche haben. Wir können uns da super austauschen und als Team halten wir zusammen und unterstützen uns gegenseitig.

Wenn ich auf die erste Jahreshälfte zurückblicke, kann ich es immer noch nicht richtig fassen. 2024 ist bislang wie ein Fiebertraum! Ich habe mein Abitur gemacht, meinen 18. Geburtstag gefeiert und jetzt stehe ich vor meinen ersten Paralympics. Wenn ich an die Zeit in Paris denke, freue ich mich am meisten auf das Athletendorf. Die Vorstellung, mit allen Nationen auf so einem engen Raum zusammenzuleben und sich mit allen austauschen zu können, finde ich total spannend.

Sportlich möchte ich über die 400 Meter unbedingt das Finale im Stade de France erreichen und so einen Platz unter den ersten acht schaffen. Ich freue mich einfach darauf, dass ich jetzt selbst zu den Sportlerinnen gehöre, die ich vor drei Jahren noch im Fernsehen gesehen habe. Ich will jetzt all die Erfahrungen machen, die man als Zuschauerin auf dem Sofa gar nicht mitbekommt.

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