zum Hauptinhalt
Seit Jahren richtet Marokko seine Investitionen auf die WM 2030 aus. Das wohl wichtigste Symbol ist der Bau des weltweit größten Stadions in der Nähe von Casablanca.

© IMAGO/Sebastian Frej

Droht der Fifa das nächste Skandal-Turnier?: Marokkos WM-Vision wird zum sozialen Pulverfass

Die marokkanische Regierung investiert Milliarden in die WM 2030. Derweil wächst der Protest gegen Armut, Jugendarbeitslosigkeit und ein marodes Gesundheitssystem. Dabei soll in zwei Monaten die Afrikameisterschaft stattfinden.

Von Ronny Blaschke

Stand:

Mit Fußball wollten sich die Ultras in Marokko zuletzt kaum befassen. Die größten Fangruppen haben die Profiliga in den vergangenen zwei Wochen gemieden, überdies auch die Heimspiele des marokkanischen Nationalteams gegen Bahrain und Kongo. Damit wolle man die „Verbundenheit mit den Themen der Nation“ zum Ausdruck bringen, schrieb „Rosso Verde“ in den sozialen Medien. Diese Fangruppe begleitet die Nationalmannschaft seit vielen Jahren.

Die Ultras möchten diesen Boykott als Solidarität verstanden wissen. Über mehrere Tage haben Tausende Menschen in den Großstädten Marokkos demonstriert. Damit wollen sie auf die Misere in Bildung und Gesundheitswesen aufmerksam machen, sowie auf die Korruption im Staat. Einige Proteste wurden von Gewalt und Plünderungen überschattet. Die Regierung erhöhte die Polizeipräsenz. Und König Mohammed VI. mahnte in einer Rede zur Geschlossenheit. Seitdem hat sich die Lage etwas beruhigt.

Auf der einen Seite investiert die Regierung Milliarden in Hotels, Straßen und Stadien. Auf der anderen Seite haben Menschen nicht mal Wasser und Strom.

Basma El Atti, Korrespondentin für das Medienportal The New Arab

Doch die Probleme sind tiefgreifend, und so können die Demonstrationen jederzeit wieder beginnen. „Marokko entwickelt sich in zwei Geschwindigkeiten“, sagt Basma El Atti, Korrespondentin für das Medienportal The New Arab. „Auf der einen Seite investiert die Regierung Milliarden in Hotels, Straßen und Stadien. Auf der anderen Seite haben viele Menschen keine Krankenversicherung und müssen sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Auf dem Land fehlt manchmal sogar Wasser und Strom.“

Bevölkerung will Krankenhäuser und keine Stadien

Der Frust der Demonstrierenden richtet sich auch auf die Fußballoffensive. Am 21. Dezember beginnt in Marokko die Afrikameisterschaft. Und 2030 will das Land mit Spanien und Portugal die WM austragen. Seit Jahren richten Regierung und Königshaus ihre Investitionen darauf aus, zum Beispiel mit einer neuen Fußballakademie und der Austragung von Jugendturnieren und Kongressen. Das wohl wichtigste Symbol ist der Bau des weltweit größten Stadions in der Nähe von Casablanca, das 500 Millionen Dollar kosten soll.

6
Milliarden Dollar soll die WM den marokkanischen Staat laut der Regierung kosten.

In der Erzählung der Regierung soll die WM den marokkanischen Staat maximal sechs Milliarden Dollar kosten. Doch die positiven Effekte sollen dies bei weitem überstrahlen. Bis 2035 will die Regierung das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das heute bei rund 3900 Dollar liegt, verdoppeln. „Der Fußballbetrieb wird die Entwicklung von Marokko beschleunigen“, sagt Amine El Amri, einer der bekanntesten Sportjournalisten in Marokko. „Von einem Agrarland zu einem Zentrum für Tourismus und Dienstleistungen.“

In Marokko wird immer wieder gegen die Korruption im Land und für soziale Gerechtigkeit protestiert.

© AFP/ABDEL MAJID BZIOUAT

Doch in der marokkanischen Gesellschaft, die mit einem Durchschnittsalter von knapp dreißig Jahren relativ jung ist, scheint der Glaube daran zu schwinden. In den Städten liegt die Jugendarbeitslosigkeit zum Teil bei fünfzig Prozent. Landesweit sind pro 1000 Einwohner 0,73 Ärzte vertreten, in der Europäischen Union sind es 4,12. Daher lauteten einige Botschaften bei den Protesten zuletzt: „Wir wollen Krankenhäuser und keine Stadien.“ Und: „Gesundheit zuerst, Fußball später.“

Vor dem Zuschlag für die WM 2030 hatte sich Marokko fünfmal für die Austragung beworben. 2015 sollte die Afrikameisterschaft in Marokko stattfinden. Damals aber waren einige westafrikanische Staaten von einer Ebola-Epidemie betroffen. Marokko weigerte sich, das Turnier zu verschieben – und wurde vom Afrikanischen Fußballverband als Gastgeber ausgetauscht.

Der Disput erschwerte die diplomatische Stellung Marokkos in Afrika, die ohnehin belastet war. Etliche Nachbarstaaten kritisierten die Regierung in Rabat immer wieder für die Besetzung der Westsahara, deren völkerrechtlicher Status bis heute umstritten ist. Nach einer Entspannungsphase kehrte Marokko 2017 schließlich in die Afrikanischen Union zurück.

Eingeschränkte Pressefreiheit in Marokko

Inzwischen will die marokkanische Regierung ihre wachsenden Ambitionen in Afrika mit Hilfe des Fußballs zum Ausdruck bringen. Einige Nationalteams aus Subsahara-Afrika, die nicht über Stadien nach internationalem Standard verfügen, bestreiten ihre Heimspiele in Marokko. Und die Fifa etabliert ihre erste Niederlassung auf dem afrikanischen Kontinent in Marrakesch.

Normalerweise gilt Marokko als fußballverrücktes Land.

© IMAGO/Gribaudi/ImagePhoto

Mit dieser Stellung wolle sich Marokko als Bindeglied zwischen Afrika und Europa positionieren, sagt der Islamwissenschaftler Jakob Krais von der Universität der Bundeswehr in München: „Durch die geografische Lage ist das Land auch für Europa von strategischer Bedeutung. Die EU zahlt viel Geld an Marokko, um die Migration aus Afrika zurückzuhalten.“

Aber wird dieser Plan aufgehen, wenn Marokko an Stabilität einbüßen sollte? In der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ belegt Marokko von 180 bewerteten Staaten und Gebieten den 120. Platz. Bei den Protesten in den vergangenen Wochen ging die Polizei massiv gegen die Demonstranten vor. Mindestens drei sollen dabei gestorben sein.

Es ist wahrscheinlich, dass die Fußballfans nun nach der Länderspielpause darauf reagieren werden. „Seit Jahren greifen die Ultras mit Gesängen und Transparenten politische Themen auf“, sagt Nadim Rai, der Vorträge über Fankulturen im Nahen Osten und in Nordafrika hält. Fans singen über das Auswandern nach Europa, über korrupte Behörden oder aggressive Polizisten. Einmal verwiesen Ultras von Raja Casablanca in einem Banner auf „Zimmer 101“, jene Folterkammer aus dem Roman „1984“ von George Orwell.

Marokko steht vor großen Herausforderungen. Nach dem Erdbeben 2023 im Atlasgebirge, das fast 3000 Menschen das Leben gekostet hat, müssen noch immer Tausende Menschen in Zelten übernachten.

Fouzi Lekjaa, Präsident des Marokkanischen Fußballverbandes, wollte die Aufmerksamkeit zuletzt aber lieber auf die baldige Afrikameisterschaft lenken. Lekjaa ist auch Vizepräsident des Afrikanischen Fußballverbandes und Mitglied des Fifa-Rates. In der marokkanischen Regierung berät er zudem den Wirtschaftsminister. Sollte es Proteste gegen Staat und Fußball geben, dürfte er sich gleichermaßen angesprochen fühlen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })