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Realitätsnaher Jubel. Herthas Davie Selke lässt sich in dieser Szene von seinen Mannschaftskollegen für ein Tor feiern, das nicht auf dem Rasen erzielt worden ist, sondern auf einem Bildschirm.

© EA Sports

E-Sport: Neues Spiel, neues Glück für Hertha BSC?

E-Sport findet immer größeren Zulauf. Die Fußball-Bundesligisten wollen am Wachstum teilhaben. Nun auch Hertha BSC.

Ob Paul Keuter manchmal schlechte Gedanken bekommt, wenn er zu seiner Arbeit geht und an einem Gebäude vorbeiläuft, auf dem ein hübsches Graffiti aufgesprüht worden ist? Es zeigt chronologisch von links nach rechts Eckpfeiler der Geschichte von Hertha BSC; die erste Heimspielstätte namens Plumpe; das Gründungsschiff, nach welchem der Verein benannt wurde; die Fußballerlegende Hanne Sobek und – dann in Farbe – das Maskottchen Herthinho sowie einen Hertha-Spieler mit dem DFB-Pokal in der Hand. Letzteres soll dann wohl die Zukunft abbilden. In der Mitte des Graffitis steht eine Zahl, die gewaltig ist und mit der auch Paul Keuter zu kämpfen haben dürfte: 125. Seit etwas mehr als 125 Jahren also existiert dieser Verein, und alles, was länger als 100 Jahre Bestand hat, darf sich die Tradition ganz oben auf die Fahnen schreiben, auch wenn – wie im Falle von Hertha BSC – die großen Erfolge vor dem Zweiten Weltkrieg gelangen. Tradition ist nicht an Erfolg gebunden, aber – so sieht das vor allem der treue Anhang – sie verpflichtet nun einmal.

Das Graffiti befindet sich an einem Gebäude der Geschäftsstelle von Hertha und Keuter ist seit zwei Jahren der Mann bei Hertha, von dem viele Fans glauben, dass er sich nicht in den Dienst der bewahrenswerten Tradition stellt. Ein harter Kern der Anhängerschaft vermutet, dass jemand wie Keuter der Geschichte des Vereins, diesen 125 Jahren, schadet. Schon mit seinem offiziellen Aufgabenbereich tun sie sich schwer. Keuter ist für die digitale Transformation und Weiterentwicklung digitaler Geschäftsmodelle zuständig, also für die Dinge, die eher in der Zukunft und nicht in den letzten 125 Jahren verortet sind. Es habe mal jemand gesagt, sagt Keuter, Tradition solle ein Sprungbrett sein, aber kein Ruhekissen. „So sehe ich das auch.“

Der 43-Jährige hat sich in den vergangenen beiden Jahren viel anhören und ansehen müssen. So auch jüngst beim Heimspiel gegen Borussia Dortmund. Fans hatten ein Plakat mitgebracht, dass gegen ihn gerichtet war. „Kiez-Sport statt E-Sport“ stand darauf Bezug nehmend auf seinen jüngsten Vorstoß. Keuter will, wie es seine Jobbeschreibung vorsieht, dass der Fußballklub Hertha BSC nicht mehr nur auf dem Rasen, sondern auch auf den digitalen Spielfeldern stattfindet.

Das Ziel: Die Marke Hertha soll bekannter werden

Die beste Möglichkeit, das zu tun, ist E-Sport, die Kurzform für elektronischer Sport. Ein E-Sportler schwitzt nicht auf dem Rasen, er jagt nicht dem Ball hinterher und schlurft nach dem Spiel auch nicht keuchend vom Platz. Ein E-Sportler sitzt in einem Stuhl mit einem Controller in der Hand und steuert damit die Spieler der Computersimulation. Der Marktführer im Bereich der Fußballsimulationen ist der US-amerikanische Konzern Electronic Arts, gefolgt von der japanischen Firma Konami. Am E-Sport verdienen aber auch die ganz großen Firmen wie Sony oder Microsoft, auf deren Konsolen die Simulationen gespielt werden können. E-Sport ist ein Milliardengeschäft und wenn Paul Keuter sagt, dass „es fahrlässig wäre, sich damit nicht zu befassen“, hat er vermutlich recht. E-Sport findet immer größeren Zulauf. Die Fußball-Simulationen werden inzwischen live im Fernsehen übertragen. Kommentatoren begleiten die gesteuerten Mannschaften, als handelte es sich um ein wahrhaftiges Fußballspiel. Wahrhaftig ist ohnehin das Stichwort. Die Simulationen sind inzwischen der Realität in ihrer Erscheinungsform beeindruckend nahe gekommen. „Wir werden unser E-Sport-Engagement künftig weiter ausbauen“, kündigte jüngst Pascal Damm, Digitalchef des Fernsehsenders Sport1 an. Das Ziel sei, „das Thema in Deutschland in den Mainstream zu bringen“.

Und weil E-Sport schon groß ist und immer größer wird, ist er auch für diverse Bundesligisten interessant geworden. Neben dem 1. FC Köln, der am Mittwoch seinen Einstieg bekannt gab, versuchen sich der VfL Wolfsburg, Schalke 04, RB Leipzig sowie Bayer Leverkusen auf dem neuen Geschäftsfeld – und nun also auch Hertha BSC.

„Natürlich ist E-Sport wegen seiner inzwischen sehr großen Reichweite auch für Sponsoren interessant“, sagt Maurice Sonneveld, der bei Hertha das Projekt vorantreiben soll. „Natürlich würde der Verein, die Marke Hertha BSC durch eine erfolgreiche E-Sport-Akademie bekannter werden.“

Hertha will E-Sportler ausbilden

Die Berliner fahren dabei eine etwas andere Strategie als die Konkurrenz. Sie veranschlagen kein allzu hohes Budget für die neue Sparte. Der Plan: Es sollen nicht einfach gute E-Sportler eingekauft werden wie es zum Beispiel RB Leipzig mit Deutschlands wohl bestem Fußball-Simulationsspieler Cihan Yasarlar getan hat. Hertha will junge E-Sportler getreu dem Vereins-Motto „Die Zukunft gehört Berlin“ ausbilden. „Wir wollen zwei bis vier Spieler im Alter zwischen 12 und 18 Jahren aus Berlin, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern für uns gewinnen“, sagt Sonneveld. Man wolle von dem Standortvorteil profitieren. „Berlin ist das Herz des E-Sports. Nirgendwo anders in Deutschland wird so viel gespielt wie in der Hauptstadt.“ Im Juli dieses Jahres soll die Akademie schließlich eröffnen werden.

Für das Projekt hat der Verein einen digitalen Headcoach angeheuert. Der Mann heißt Matthias Hietsch, aber – wie das üblich ist unter E-Sportlern – vor allem sein Spielname ist in der Szene ein Begriff: Stylo. Er habe früher im Bad immer etwas länger gebraucht, erzählt Hietsch, so sei der Name entstanden. Hietsch soll die besten Spieler in der E-Sport-Spielstadt Berlin aussuchen und ausbilden.

Hietsch ist der Gegenentwurf von dem Bild, das man gemeinhin von einem E-Sportler hat. Der 26-Jährige steht fest im Leben, hat vor wenigen Tagen seine Bankerlehre beendet, ist verheiratet und hat drei Kinder. „Meine Gegner sind in der Regel jünger, ungebundener, haben keine Mehrfachbelastung wie ich“, sagt Hietsch. Für die professionellen E-Sportler ist die Simulation kein Zeitvertreib, keine Daddelei mehr. Hietsch trainiert und spielt nahezu täglich. Er achtet auf seine Ernährung, macht jeden Tag ein Workout, um körperlich fit zu bleiben. Er zitiere gerne den ehemaligen Fußballer Ruud Gullit, sagt Hietsch: „E-Sport ist kein Spiel mehr, es ist ein richtig professionelles Ding geworden.“

Das sieht Paul Keuter auch so, schon allein im Zuge von Change-Management-Prozessen müsse man sich mit dem Thema beschäftigen. Auch wieder so ein Satz, bei dem die Traditionalisten bei Hertha zusammenzucken dürften.

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