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Nach dem Spiel strömten die Fans auf den Rasen des Stadions.

© imago sportfotodienst

Eine Dokumentation zu den Anschlägen in Paris: Die Nationalmannschaft im Fadenkreuz des Terrors

Vor zehn Jahren wollten islamistische Terroristen beim Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Deutschland ein Blutbad anrichten. Ein Film zeichnet die Ereignisse nach.

Stand:

Die erste Reaktion des Publikums fällt so aus, wie sie eigentlich immer ausfällt, wenn es in einem Fußballstadion plötzlich knallt. Es gibt Pfiffe von den Rängen. Wieder ein Idiot, der einen Böller gezündet hat: Das ist bei vielen der erste, da naheliegende Gedanke. Und doch ist es anders als sonst.

„Wir waren verwirrt. Es war kein Böller, wie man das kennt. Es war ein dumpfer Knall“, sagt Andreas Köpke, der an diesem Abend als Torwarttrainer auf der Bank der deutschen Nationalmannschaft sitzt.

„Der erste Gedanke war: Boah, das war doch relativ laut“, sagt Ilkay Gündogan, damals Nationalspieler. „Ungewohnt. Aber man hat sich ehrlicherweise nicht so viel dabei gedacht.“

„Man zuckt ein bisschen zusammen“, sagt Julian Draxler, der im Freundschaftsspiel zwischen dem Weltmeister Deutschland und Frankreich im Stade de France auf dem Rasen steht.

130
Menschen kamen bei den Anschlägen im November 2015 ums Leben

Es ist Freitag, der 13. November 2015, exakt 21.16 Uhr, als eine Viertelstunde nach dem Anpfiff der Partie, ein lauter Knall zu hören ist. Doch es ist kein Böller, der da explodiert ist; es ist eine Bombe, die ein Selbstmordattentäter vor dem Stadion in St. Denis gezündet hat – mit dem Ziel möglichst viele Menschen mit sich in den Tod zu reißen.

Die Nationaltrainer Joachim Löw (links) und Didier Deschamps nach dem Spiel im Stade de France.

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Davon aber und von der monströsen Dimension des Geschehens ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand etwas: nicht die 22 Spieler auf dem Rasen und auch nicht die 80.000 Zuschauer auf den Rängen. Das Spiel wird fortgesetzt, selbst nachdem es nur vier Minuten später erneut gewaltig geknallt hat. „Man hat gemerkt, irgendetwas stimmt nicht“, sagt Jerome Boateng, der damals in der Startelf steht. Und trotzdem wird die Partie wie geplant zu Ende gespielt. Dass die Franzosen sie mit 2:0 für sich entscheiden, ist inzwischen weitgehend vergessen.

Die Attacke auf das Stade de France ist der Auftakt einer Terrorserie, die am 13. November 2015, vor zehn Jahren also, die französische Hauptstadt erschüttert hat. Das Ziel ist bewusst gewählt. Ein Anschlag auf das Stadion, in dem acht Monate später das Finale der Fußball-Europameisterschaft stattfinden soll und in dem sich der amtierende Weltmeister und der EM-Gastgeber gegenüberstehen: Eine größere Bühne ist kaum denkbar.

Die Attacke einer Terrorzelle des Islamischen Staats (IS) an diesem Abend hat eine neue Qualität. Es handelt sich um eine konzertierte Aktion an mehreren Orten der Stadt, scheinbar perfekt geplant und doch – zumindest, was den Anschlag auf das Stade de France angeht – bemerkenswert dilettantisch ausgeführt. Die Attentäter haben nicht bedacht, dass man Eintrittskarten benötigt, um an einem Spieltag in ein Fußballstadion zu gelangen.

Du hast gemerkt: Das ist kein Film. Das ist der Ernst des Lebens. Jetzt ist wirklich die Kacke am Dampfen.

Jerome Boateng, Nationalspieler im November 2015

Das bewahrt vermutlich ungezählte Menschen vor dem sicheren Tod. Denn den Plan, sich im Stadion in die Luft zu sprengen, können die Terroristen nicht in die Tat umsetzen, und so fordern die drei Bombenexplosionen am Stade de France lediglich ein ziviles Opfer.

Insgesamt kommen an jenem Abend im November 2015 in Paris und dem Vorort St. Denis 130 Menschen ums Leben, fast 700 werden verletzt, noch viele mehr für immer traumatisiert. „Eine blutige Spur wurde durch Paris gezogen“, sagt Thomas de Maizière, der damalige deutsche Innenminister, in der Dokumentation „Die Nacht von Paris – Terror am Stade de France“ (ab 6. November, 21 Uhr auf Sky Documentaries und bei Sky und dem Streamingdienst Wow abrufbar).

Der Film von Christian Twente und Markus Brauckmann nimmt vor allem das Geschehen rund um das Fußballspiel in den Blick. Es sind die bewegenden Augenzeugenberichte, die diese Dokumentation tragen. Sechs deutsche Nationalspieler kommen zu Wort, weitere Mitglieder der DFB-Delegation, Opfer der Explosionen, der damalige französische Staatspräsident François Hollande, Journalisten, die über das Spiel berichten sollten, und normale Fans.

Das DFB-Team verbringt die Nacht im Stadion

Die Geschehnisse werden mehr oder weniger chronologisch nacherzählt: von 35 Stunden vor dem Anschlag bis zum Moment am nächsten Morgen, an dem die Nationalmannschaft mit einem Sonderflug vom Flughafen Charles de Gaulle aus nach Deutschland zurückkehrt. „Als wir dann gestartet sind, hatte ich das erste Mal das Gefühl: Okay, jetzt sind wir in Sicherheit“, sagt Shkodran Mustafi.

Der Film berichtet vom Schrecken, den die sonst stets umsorgten und wohlbehüteten Nationalspieler in jener Nacht von Paris erleben. Aus Sicherheitsgründen bleiben sie zunächst in ihrer Kabine im Stade de France, ohne realistisch einschätzen zu können, wie bedrohlich die Lage für sie wirklich ist.

Bis zum Abpfiff haben die Spieler nichts von den Anschlägen rund um das Stadion erfahren. Erst in der Kabine werden sie über den Stand der Dinge informiert. Julian Draxler berichtet, dass ihn vor allem das Verhalten von Oliver Bierhoff, dem Manager der Nationalmannschaft, irritiert hat. „Oliver Bierhoff ist Oliver Bierhoff“, sagt er. Immer souverän, nie nervös. Doch genau das ist Bierhoff nun nicht mehr.

Vor der Kabine stehen bewaffnete Polizisten

Jerome Boateng ergeht es ähnlich: „Du hast gemerkt: Das ist kein Film. Das ist der Ernst des Lebens. Jetzt ist wirklich die Kacke am Dampfen.“

Verglichen mit dem wahren Schrecken, der sich an diesem Abend zum Beispiel in der Konzerthalle Bataclan ereignet, verglichen mit den Sorgen der normalen Fans, die aus dem Stadion in die Pariser Nacht heraustreten, sind die Probleme der Nationalspieler eher überschaubar. Zu ihrem Schutz stehen immerhin schwer bewaffnete Polizisten vor der Tür ihrer Kabine.

Doch Terror verfolgt immer auch das Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten. Dieses Gefühl der Bedrohung trifft die deutsche Nationalmannschaft in jener Nacht mit voller Wucht.

Es dämmert schon am nächsten Morgen, als die Spieler in den Bus steigen, der sie durch die scheinbar verlassene Stadt zum Flughafen bringen wird. Sie müssen aus dem Schutz der Kabine hinaus ins Freie. „Diese zehn Meter zum Bus zu machen: Das war schon beängstigend“, sagt Ilkay Gündogan.

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