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Sport: Eine gute Lehre

Erst durch Startrainerin Tarassowa hat Annette Dytrt verstanden, wie man ernsthaft Eiskunstlauf betreibt

Berlin. Es muss irgendwann nach dem dreifachen Salchow passiert sein. Das war klar. Nur wusste später keiner, warum es überhaupt passiert ist. Annette Dytrt fuhr bloß übers Eis. Eine harmlose Situation. Die Zuschauer im Erika-Hess-Stadion in Berlin-Wedding hatten gerade noch geklatscht, es gab also nichts Störendes. Aber plötzlich war er da. „Ein Black-out“, sagt Annette Dytrt später. „Keine Ahnung, weshalb.“ Er war da, das genügte, den Flip sprang sie deshalb nur noch zweifach. Geplant waren drei Drehungen. Punktabzug bedeutete das. In diesem Fall war das ausnahmsweise kein Problem, weil ihre Konkurrentinnen in Berlin reihenweise stürzten. So verteidigte Annette Dytrt trotzdem ihren Titel als Deutsche Einzel-Meisterin im Eiskunstlauf.

Aber was hätte Tatjana Tarassowa gesagt zu dem Black-out und dem verpatzten Flip? Hätte sie die 20-Jährige brüsk angefahren, wie so oft im Training, wenn etwas nicht optimal geklappt hatte? Tarassowa, die Trainer-Legende aus Russland, kann sehr brüsk werden. Oder hätte sie Verständnis gehabt? Und der 20-Jährigen tröstend übers Haar gestrichen? Macht nichts, Mädchen, der Wettkampfstress, hast ja auch so gewonnen. Hätte sie so geredet?

Seelische Probleme

Tarassowa war nicht körperlich in Berlin. Dort war nur Dytrts Stützpunkttrainer Alexander Vedenin, und der hat nicht geschimpft. Aber im Hinterkopf von Dytrt ist Tarassowa immer präsent. Die Star-Trainerin ist einer der Gründe dafür, dass Dytrt sicherer, dynamischer und technisch besser zum Titel gelaufen ist als vor einem Jahr. Und Vedenin weiß, dass er es Tarassowa verdankt, dass er jetzt nicht mehr das Gefühl hat, er könnte manchmal seine Anweisungen auch einem Blumentopf statt Dytrt geben, weil das den gleichen Effekt hätte.

„Annette war drei Jahre im Keller“, sagt Vedenin, „sie war in keinem Kader, an Lehrgänge war nicht zu denken.“ Damals hatte sie seelische Probleme, trainierte unkonzentriert, verbiss sich in den Gedanken, zementiert im Schatten der übermächtigen Tanja Szewczenko zu stehen. Bis sie dann das Training endlich ernster nahm. Prompt wurde sie 2003 Deutsche Meisterin. Aber die Meisterin 2004 ist eine andere als die von 2003, sagt Dytrt. Sie kann es konkreter sagen: „Seit meinem USA-Aufenthalt bin ich eine andere Läuferin.“ In den USA, im Städtchen Simsbury, Bundesstaat Connecticut, traf sie im Sommer auf Tarassowa. Und auf Sasha Cohen, 17 Jahre alt, WM-Vierte von 2003, die jetzt schon als Goldhoffnung bei Olympia 2006 gehandelt wird. Eine Trainer-Legende, ein Riesentalent und Dytrt. Eine Mischung wie Kaviar mit Pommes frites.

Schimpfen, bis es klappt

Vedenin hatte den Kontakt hergestellt, er ist mit Tarassowa „seit vielen Jahren befreundet“. Dytrt sollte in zwei Wochen lernen, wie Profis arbeiten. Aber zuerst trafen zwei Welten aufeinander. Dytrt sah an ihrem ersten Tag in Simsbury aufs Eis, verfolgte das Training von zwei Paarläufern sowie einem Japaner, einem russischen Juniorenläufer und Cohen und stöhnte entsetzt: „Oh Gott, muss ich das auch alles machen?“ Vedenin: „Sie war schockiert.“ Diese Konzentration, diese Akribie bei jeder Übung, das war sie nicht gewohnt. Aber am dritten Tag machte sie alles mit. Tarassowa, die diverse Weltmeister betreute, ließ ihr auch gar keine Wahl. „Sie schimpfte so lange, bis alles hundertprozentig klappte“, sagt Vedenin.

Sie arbeitete aber auch subtiler. Vedenins Kotrainerin Shanette Folle war auch in Simsbury. Tarasowa ermunterte sie, Cohen ein paar Übungen zu zeigen. Übungen, die Dytrt kannte, die sie auch schon absolviert hatte. Die Weltklasse-Läuferin Cohen befolgte alles kommentarlos und hochkonzentriert. „Da hat Annette gesehen, dass die Übungen, die wir ihr zeigen, ihren Sinn haben“, sagt Vedenin. Dytrt dehnte sich vor dem Training mit Cohen, sie redete mit ihr über Ernährung, irgendwann versuchte sie, alles nachzumachen. Zu Hause hatte Vedenin anschließend eine Läuferin, „die viel intensiver arbeitet. Wir müssen ihr nicht mehr nachlaufen.“ Laut schimpfen, sagt er, können Folle und er auch, „aber erst seit der Erfahrung mit Tarassowa kommt das jetzt bei ihr an“.

Die Trainer-Legende hatte schon früher zu Vedenin gesagt: „Die Annette hat ein großes Potenzial.“ Die Russin hatte die Deutsche bei Wettkämpfen verfolgt. In Simsbury sagte sie dann: „Ich würde sie gerne weiterbetreuen.“ Doch Dytrt würde außer mit der Star-Trainerin wohl gerne auch wieder mit Cohen trainieren. Aber das muss sie sich abschminken: Cohen und Tarassowa haben sich getrennt.

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