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Endlich Abstiegskämpfer! Herthas Fabian Reese (links) überzeugte in Braunschweig nicht nur wegen seiner beiden Tore.

© imago/Jan Huebner/IMAGO/Michael Taeger

Es geht also doch: Hertha BSC mit der Mentalität echter Abstiegskämpfer

Hinten aufmerksam und kompromisslos, vorne gierig und entschlossen. Beim 5:1 in Braunschweig gelingt Hertha der erste durchgängig überzeugende Auftritt der Rückrunde.

Stand:

Toni Leistner ging leicht in die Knie, er ballte die Fäuste und schrie seine Freude heraus. Von hinten kam Tjark Ernst, der Torhüter von Hertha BSC, und schlug seinem Kollegen voller Anerkennung auf die Schulter.

Leistner hatte gerade einen gefährlichen Schuss der Braunschweiger geblockt, der mit einiger Wahrscheinlichkeit im Tor der Berliner gelandet war. Es lief die 78. Minute, und Hertha führte 4:0.

Dass der Innenverteidiger und Kapitän des Berliner Fußball-Zweitligisten sich trotzdem so unbändig freute, sagte einiges über den Auftritt seiner Mannschaft am Sonntag gegen Eintracht Braunschweig. Hertha spielte mit der Mentalität echter Abstiegskämpfer. Jeder Moment zählte, in der ersten Minute genauso wie in der letzten.

Wobei: Bis zur letzten Minute klappte es dann doch nicht. Die Nachspielzeit war gerade angebrochen, als Lino Tempelmann den Ball in den Winkel des Berliner Tores jagte und den Ehrentreffer zum 1:4 erzielte. „Mich als Abwehrspieler wurmt es natürlich, dass wir in der 90. Minute noch das Gegentor bekommen“, gestand Leistner. „Sonst war es ein überzeugender Auftritt heute.“

Das war der erste Schritt, aber die Saison ist längst noch nicht durch.

Herthas Stürmer Fabian Reese

Dazu gehörte auch, dass Hertha selbst auf das späte 1:4 der Braunschweiger noch eine Antwort parat hatte. Quasi im Gegenzug traf der eingewechselte Marten Winkler nach einem Pass des eingewechselten Luca Schuler zum 5:1-Endstand. „In den richtigen Momenten sind wir gierig geblieben“, sagte Herthas Doppeltorschütze Fabian Reese.

Nach sieben Spielen ohne Sieg konnte Hertha erstmals wieder jubeln.

© imago/Christian Schroedter/imago/Christian Schroedter

Hinten – bis auf einen einzigen Moment – aufmerksam und kompromisslos, vorne gierig und entschlossen: In Braunschweig gelang der Mannschaft von Trainer Stefan Leitl eine beeindruckende Antwort auf die latenten Zweifel, mit denen sie sich in den vergangenen Tagen und Wochen konfrontiert gesehen hatte. Es war nicht nur ein immens wichtiger Sieg im Kampf gegen den Abstieg, es war auch das erste durchgängig überzeugende Spiel der Mannschaft in der Rückrunde. Es geht also doch!

Erstmals seit langem zeigten die Berliner, dass Potenzial bei ihnen nicht nur im Konjunktiv vorhanden ist. Das vermeintliche Duell auf Augenhöhe zwischen dem Sechzehnten Braunschweig und dem Vierzehnten Hertha war in Wirklichkeit eine ziemlich einseitige Angelegenheit. Die Gäste waren der Eintracht in jeder Hinsicht klar überlegen. Ihrer Qualität hatten die Braunschweiger nichts entgegenzusetzen.

„Der Trainer hat uns gut vorbereitet. Wir waren giftig, wir waren gut am Mann, wir haben uns in jeden Schuss geworfen“, sagte Toni Leistner. „Der Plan hat gegriffen.“ Fabian Reese berichtete später, dass man die Braunschweiger ein bisschen habe locken wollen, „damit sie nicht ganz so tief stehen“. Die Idee war nicht nur schlüssig, sondern auch erfolgreich.

Hertha überließ Braunschweig freiwillig den Ball

Mitte der ersten Halbzeit war Trainer Leitl an der Seitenlinie im Zustand höherer Erregung zu beobachten. Er suchte den Blickkontakt zu Torhüter Tjark Ernst und tippte sich mit beiden Zeigefingern an die Schläfen. „Denkt doch mal nach!“, sollte das heißen.

Ernst hatte einen Abschlag kurz ausführen wollen, so wie sie es bei Hertha immer machen. Doch dann besann er sich eines Besseren. Die Innenverteidiger, seine potenziellen Anspielstationen, liefen Richtung Mittellinie – und Herthas Torhüter drosch den Ball in die gegnerische Hälfte. So wie er es auch bei allen anderen Abschlägen, die noch folgen sollten, tun würde.

Den Fall, dass der Ball bei den Braunschweigern landete, nahm Hertha dabei nicht nur in Kauf. Das war sogar ausdrücklich so gewollt: Denn nur wenn die Braunschweiger den Ball gewannen, konnten sie ihn anschließend auch wieder verlieren. Und genau darauf hatte es Trainer Leitl mit seinem Matchplan angelegt.

Die frühe Führung half Hertha

„Wir haben immer wieder die Räume gefunden, die wir bespielen wollten“, sagte Herthas Trainer. „Wir haben ein super Positionsspiel gehabt, die Eintracht immer vor Aufgaben gestellt.“ Vor allem die beiden flinken Angreifer Fabian Reese (zwei Tore) und Derry Scherhant (ein Tor, zwei Vorlagen) waren von den Braunschweiger nicht unter Kontrolle zu bekommen.

Dass die Berliner schon nach wenigen Minuten in Führung gingen, kam ihnen zusätzlich entgegen. Reese nutzte die erste Gelegenheit des Spiels. Er jagte den Ball mit Überzeugung in den Winkel – mit einer Überzeugung, die den Berlinern zuletzt ein wenig abgegangen war. „Wir haben die Tore gemacht, die wir in den vergangenen Wochen nicht gemacht haben“, sagte Leitl.

Nach dem höchsten Sieg der Saison stellt sich die Gesamtsituation für Hertha schon wieder wesentlich freundlicher dar – auch wenn die Berliner nach den Enttäuschungen der jüngeren Vergangenheit verständlicherweise nicht gleich in Triumphgeheul ausbrechen wollten.

„Das war der erste Schritt“, sagte Reese, aber die Saison sei längst noch nicht durch. Und Trainer Leitl warnte: „Die Liga ist brandgefährlich.“ Deswegen habe sich die Situation für sein Team durch den Erfolg auch nicht geändert.

Dass Leitl einem möglichen Schlendrian vorbeugen wollte, ist nur verständlich. Aber der überzeugende Sieg in Braunschweig, gegen einen direkten Konkurrenten, hat tatsächlich etwas verändert. Er könnte bereits der entscheidende Schritt Richtung Klassenerhalt gewesen sein – vorausgesetzt, Hertha verfällt im Rausch des Sieges nun nicht wieder in unerklärliche Lethargie.

Auf sechs Punkte haben die Berliner ihren Vorsprung auf die Eintracht auf dem Relegationsplatz vergrößert. Die Braunschweiger müssten also in den ausstehenden acht Spielen der Saison zwei Spiele mehr gewinnen als Hertha. Von den ersten neun Spielen der Rückrunde haben sie überhaupt nur zwei gewonnen.

Aber wenn Herthas Mannschaft auch in den nächsten Wochen so spielt wie am Sonntag in Braunschweig und ihr Potenzial tatsächlich einmal verlässlich abruft, dann muss sie sich gar nicht zwingend auf die Schwäche der Konkurrenz verlassen.

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