Sport: Gegen die Gewohnheit
Zum ersten Mal reisen die Schalker mit dem Gefühl zum FC Bayern, Favorit auf Sieg und Meisterschaft zu sein
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Mirko Slomka hat sich im Berufsleben schon öfter als mutiger Mann erwiesen. Vor dem Auswärtsspiel gegen den FC Bayern München (15.30 Uhr, live auf Arena) zeigte der Trainer des FC Schalke 04 wieder viel Courage. „Die Bayern stehen enorm unter Druck. Wenn sie gegen uns verlieren, könnten die Champions-League-Plätze für sie in weite Ferne rücken.“ Dieser Satz markiert ein neues Schalker Selbstverständnis, ohne nach verbaler Kraftmeierei zu klingen.
Es ist in der Branche nicht üblich, die Bayern auf Risiken und Nebenwirkungen ihrer Formschwäche hinzuweisen. Schon gar nicht in Gelsenkirchen. Dieser Klub hat die Münchner dann und wann geärgert, einmal sogar bis zur fünften Minute der Nachspielzeit am 34. Spieltag. Manchmal haben die Schalker sogar beide Spiele gegen die Bayern gewonnen. Aber tief im Innern haben sie sich immer als Außenseiter gefühlt, der zu den Münchnern aufschaut und sie als legitimer Marktführer anerkennt. Zu Zeiten des machohaften Managers Rudi Assauer haben sie immer lauter Gründe aufgezählt, die für den FC Bayern sprachen. Am Ende pflegten die Prophezeiungen sich zu erfüllen: Die Bajuwaren setzten ihr Gewohnheitsrecht durch, und die Schalker verdrückten manche Träne.
Auf einmal gibt sich Slomka nun als Favorit, der gute Chancen sieht, „den Titel zu holen“. Das ist Mittel, um sich selber Mut zu machen, sondern beruht auf einer Analyse der Verhältnisse. Es gibt eine Reihe von Gründen für das neue Denken: Schalke hatte noch nie eine so gut besetzte Mannschaft mit so gewachsenen Strukturen wie in dieser Saison. Anders als Bremen und Bayern kann das Team sich, nach dem frühen Scheitern im nationalen wie im internationalen Pokalwettbewerb, voll auf die Meisterschaft konzentrieren. Zudem begegnet Schalke dem Titelverteidiger nicht nur als Ligaprimus, sondern auch mit neun Punkten Vorsprung. Das beruhigt die Nerven.
Der Abstand zu den Bayern ist aber nicht die Ursache für das wachsende Selbstbewusstsein, sondern dessen Wirkung; es hat sich erst im Laufe der Saison aufgebaut. Den Wendepunkt markierte das Heimspiel gegen die Bayern im November. Der Trainer lief Gefahr, seinen Job zu verlieren, die Mannschaft hatte die Gunst des Publikums verspielt und dessen Unmut sogar schriftlich bekommen. Slomka erinnert sich noch gut an den blauen Brief, den die Anhängerschaft an ihn und die kickende Belegschaft gesandt hatte. „Da stand drin, wir würden ohne Leidenschaft, ohne Herz, ohne Willen Fußball spielen.“ Die Mannschaft wirkte wie ein lustloses Ensemble, in dem Einzelinteressen den Teamgeist zersetzten.
Um diesen Prozess aufzuhalten, vor allem um seinen Job zu retten, musste Slomka sich etwas einfallen lassen. Mit dem Rücken zur Wand gelang ihm ein Befreiungsschlag, den niemand erwartet hatte. Am Vorabend des Bayernspiels nahm der Trainer den langjährigen Stammtorhüter Frank Rost aus der Elf, ersetzte ihn durch den zwanzig Jahre alten Manuel Neuer und sprach ihm bis auf Weiteres das Vertrauen aus.
Letztlich entledigte Slomka sich auf diese Art eines unbequemen Profis, der zu den Günstlingen Assauers gezählt hatte, den Brasilianern im Team angeblich den Spaß an der Arbeit verleidete und Slomka nur das Format eines Kotrainers zubilligte. Mit dem Torwartwechsel verschaffte der Fußballlehrer sich Respekt, ohne zwischen den Pfosten auch nur den geringsten Qualitätsverlust hinnehmen zu müssen. Slomka sagt, er sei sich bei allem Vertrauen in Neuers außergewöhnliche Fähigkeiten über das Risiko dieser Personalentscheidung im Klaren gewesen. „Wenn das schiefgegangen wäre, wer weiß, ob ich dann noch hier wäre“, sagt er.
Im Spiel rannten die Schalker neunzehn Minuten und vier Sekunden lang gegen eine Mauer des Schweigens an, unterbreiteten in dieser Phase aber mit zwei Toren ein Versöhnungsangebot, das die Fans nicht ausschlagen konnten. Auf dem Rasen reichte es am Ende nur zu einem Unentschieden (2:2). Dem massiven Druck an jenem Abend standgehalten zu haben und das auch noch gegen den Rekordmeister, darin lag der eigentliche Mehrwert. Die Eindrücke dieser Partie hätten die Spieler untereinander, aber auch Mannschaft und Fans zusammengeschweißt, sagt Slomka. Der Kritik aus den Medien wiederum trotzten sie mit einem Boykott, der kleinkariert anmutete, aber offenbar das Gemeinschaftsgefühl förderte.
Schweigend stürmte die Mannschaft hinauf an die Tabellenspitze, verlor nur zwei der folgenden sechzehn Partien und entwickelte sich zu einem Titelkandidaten. Das sehen nun auch die Bayern so. Und – weit wichtiger – die Schalker endlich selbst.
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