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Deniz Aytekins letzter Einsatz als Schiedsrichter ist schon eine Weile her.

© Imago/HMB-Media

„Gibt keine Menschlichkeit im Leistungssport“: Schiedsrichter Deniz Aytekin spricht über Leidenszeit während Verletzungspause

Seit Saisonbeginn konnte Aytekin noch kein Spiel pfeifen. Nun spricht der DFB-Schiri über das Älterwerden, die kalte Seite des Profisports und den rauen Ton in der Gesellschaft.

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Es gibt diesen einen Moment. Wenn Deniz Aytekin unter dem tosenden Beifall tausender Fans kurz vor einem Spiel das Stadion betritt, dann weiß er, wofür er seinen Job macht. Es ist nicht zuletzt der Gedanke an diesen Augenblick, der den Schiedsrichter in schwierigen Situationen antreibt und ihm vor Augen hält, warum er sich vor vielen Jahren für diesen Beruf entschieden hat.

„Ich bin positiv besessen von dieser Tätigkeit. Das ist pure Leidenschaft. Man müsste mir für Bundesligaspiele kein Geld zahlen, ich würde es trotzdem machen. Es erfüllt mich mit Stolz“, sagte er beim „Juristischen Salon“ der Universität Potsdam, im Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Marcus Schladebach, in der vergangenen Woche und riet den Studierenden im vollen Hörsaal: „Sucht nach diesem einen Moment, der euch antreibt.“

Das letzte Mal, dass der 46-jährige Aytekin in ein volles Stadion einlief, ist schon eine ganze Weile her. Aufgrund gesundheitlicher Probleme fällt er seit September aus. Das stellt ihn nicht nur körperlich, sondern auch mental vor Herausforderungen. „Da merkst du, wie knallhart dieses Geschäft ist. Du wirst sofort abgeschoben“, sagt er. „Es interessiert keine Sau, was du vorher alles geleistet hast. In einer Leistungsgesellschaft wirst du nur gewürdigt, wenn du Leistung erbringst. Es gibt keine Menschlichkeit im Leistungssport.“

Aytekin wurde vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) bereits dreimal zum „Schiedsrichter des Jahres gewählt“, 2023 lieferte er den Fußballspruch des Jahres („Wenn der Musiala anzieht und dir auf 80 Meter 60 bis 70 abnimmt, denkst du anders über dein Leben nach.“).

Dass Aytekin für seine offene, humorvolle Art gefeiert wird, war nicht immer so. Noch 2011 wurde er zum „Schlechtesten Schiedsrichter der Saison“ gewählt.

Getrieben von Perfektionismus

Rückblickend sagt er: „Ich war getrieben von Perfektionismus und hatte ein viel zu großes Ego. Jede Rückfrage habe ich als Kritik, als persönlichen Angriff wahrgenommen.“ Wenn man nur aufgrund seiner Position als Schiedsrichter respektiert werde, aber nicht als Mensch, sei das ein „trauriges Dasein“. „Heute werde ich als Person Deniz Aytekin respektiert.“

Mit den Spielern versucht Aytekin empathisch und offen umzugehen.

© imago/MIS/IMAGO/Bernd Feil/M.i.S.

Doch dorthin war es ein langer Weg. Er musste erst einmal lernen, mit Kritik, Buhrufen und Pfiffen umzugehen. „Die Trennung von Person und Funktion gibt mir Halt.“

Er begann außerdem, sich mit Verhaltensforschern und Experten für Körpersprache auszutauschen, um einen besseren Zugang zu den Spielern auf dem Platz zu erlangen. Wenn er bei Spielen im Ausland pfeift, lernt er vorher die wichtigsten Wörter der Landessprache. „Ich möchte kleine Brände von Anfang an löschen.“

Alle wollen Wertschätzung für ihre Arbeit, egal ob es ein Spieler ist, der 100 Millionen verdient oder meine Mutter, die Putzkraft war.

Deniz Aytekin

Spieler wie Thomas Müller oder Mats Hummels seien „mega eloquent“, hätten fachlich viel Ahnung und würden auch mal ihre Meinung sagen. Gleichzeitig gäbe es aber auch Spieler, die ein „Riesenego“ hätten und eine besondere Behandlung erfordern – insbesondere, wenn sie mal keine Tore schießen. „Ich bin Psychologe und Tröster, die Tätigkeit ist sehr abwechslungsreich“, sagt Aytekin.

Heute weiß er: „Alle wollen Wertschätzung für ihre Arbeit, egal ob es ein Spieler ist, der 100 Millionen verdient oder meine Mutter, die Putzkraft war.“

Thomas Müller hebt Aytekin lobend hervor.

© imago/HMB-Media/IMAGO/Heiko Becker

Aytekin, der in Nürnberg aufgewachsen ist und dessen Eltern aus der türkischen Provinz Tekirdağ stammen, hat den Eindruck, dass der Ton insgesamt rauer geworden ist – nicht nur im Stadion, sondern in der Gesellschaft.

Aus diesem Grund schaltet er in den sozialen Medien auch mal die Kommentarfunktion aus oder erstattet im schlimmsten Fall Anzeige. „Die Leute vergessen, dass dahinter Menschen stehen. Noch schlimmer ist es bei Politikern. Was die aushalten müssen, ist nicht mehr normal.“

Das Älterwerden macht ihm zu schaffen

Auch heute, mit bald 47 Jahren, zweifelt er trotz seiner Erfahrungen manchmal an sich. Das wird schnell deutlich, als er erzählt, wie herausfordernd es ist, nach seiner Verletzungspause zurückzukehren auf den Platz. Am liebsten würde er noch bis zu seinem 70. Lebensjahr pfeifen, wären da nicht die regelmäßigen und ziemlich anspruchsvollen Fitnesstests des DFB.

Ich mag es nicht zu rennen. Aber ich mache es trotzdem.

Deniz Aytekin

„Ich mache alles Mögliche, um die letzten drei Prozent aus mir herauszuholen“, sagt Aytekin, der sich selbst als langsamsten Schiri der Bundesliga bezeichnet. „Ich mag es nicht zu rennen. Aber ich mache es trotzdem.“

Für ihn ist es wichtig, sich nicht nur über sein Schiedsrichter-Dasein zu definieren. Auch die Familie hat einen wichtigen Stellenwert, außerdem arbeitet er als Unternehmer und ist in seiner Freizeit als DJ tätig.

„Aber Spaßmachen tut es mir nicht, dass ich noch nicht weit genug bin körperlich, um wieder einzusteigen.“ Und doch muss Aytekin wohl noch eine Weile Geduld haben, bis er wieder diesen einen Moment erleben kann, auf den er hinarbeitet. Wenn er endlich wieder unter tosendem Beifall in das Stadion einlaufen kann.

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