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Allein, allein. Boris Herrmann trainiert vor der französischen Atlantikküste, auf sich gestellt zu sein.

© JEAN MARIE LIOT

In der Trauma-Maschine: Weltumsegler Boris Herrmann – Porträt eines Rastlosen

Der deutsche Segelstar startet am Sonntag zum zweiten Mal beim Vendée Globe Race. Er ist berühmter als zuvor und steht doch wieder vor demselben Problem – wie umgehen mit Einsamkeit und Stress?

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Die Kunst des Solosegelns besteht darin, könnte man meinen, dass ein einzelner Mensch alles allein schafft. Wie ein Superheld mit Superkräften. Dabei geht es darum, loslassen zu können. Sich blind der Gewalt, dem Chaos und der Gefahr zu überlassen, die der Ozean bereithält. Man kann nicht immer die Kontrolle haben.

Beherrscht Boris Herrmann diese Kunst?

Beinahe vier Jahre ist es her, da raste der deutsche Segelstar bei seiner ersten Teilnahme am Vendée Globe dem Ziel entgegen. Er hatte eine fantastische Aufholjagd bewerkstelligt und seine Rennmaschine „Malizia-Seaexplorer“ vollkommen im Griff. Noch sieben Stunden, dann würde er mehr erreichen, als er zu träumen gewagt hatte. Denn wie die Dinge standen, konnte er als Erster oder Zweiter ankommen. Eine Sensation.

Dann übermannte ihn Müdigkeit, er schloss die Augen, überließ den 18-Meter-Racer der automatischen Steuerung, und das Unvermeidliche geschah. Ein lautes Krachen riss ihn aus dem Schlaf. Von da an war Herrmann einem breiten Publikum bekannt als „der, der kurz vor dem Ziel mit einem Fischerboot kollidierte“.

Am Sonntag begibt sich der 42-jährige Deutsche zum zweiten Mal auf die Nonstop-Weltumsegelung als einer von 40 Solisten und Solistinnen, die diesmal beim berüchtigten Vendée Globe Race starten. Nie zuvor waren es mehr. Obwohl er der Kollision nachträglich nicht viel Bedeutung beimisst, begleitet sie ihn. Steht der Vorfall doch für die Kunst, um die es in den kommenden drei Monaten gehen wird. Es mag absurd klingen, aber das Vendée Globe gewinnt man im Schlaf.

40
Teilnehmer beim Vendée Globe sind ein Rekord

„Es ist paradox“, sagt Boris Herrmann, „wie viel Zeit wir an Bord verbringen und wie schwer es fällt, den richtigen Moment für Ruhe zu finden.“ Bei allem, was dieser Ausdauertest ihm wieder abverlangen wird, ist das Schwierigste: „ausgeschlafen sein, bevor es drauf ankommt“.

Damit ist die Kunst beschrieben, sich selbst auszuschalten, bevor es die Umstände tun. Eine tückische Kunst, weil man nicht einschlafen kann, je dringender man es müsste. Weil die Liste an Aufgaben an Bord mit der Zeit immer länger wird und einem jede Rast verbietet. Weil der Verlauf des Rennens möglicherweise eigenen Erwartungen nicht entspricht und innerlich aufwühlt. Weil die Gedanken in der Koje verrücktspielen und einen erschöpften, frustrierten Menschen in eine Spirale treiben.

Boris Herrmann findet etwas Ruhe in seiner ,Raumkapsel’. Wenn die 18-Meter-Yacht „Malizia-Seaexplorer“ mit hohem Tempo unterwegs ist, ist Abschalten unmöglich.

© Malizia

„Wir haben relativ viel Netto-Schlafzeiten“, erklärt Herrmann das Prinzip, „doch die Qualität ist nicht gut. Weil man immer wieder mit einem Ohr beim Boot ist, hin und her geworfen wird in der Koje. Deshalb geht es auch darum, Entspannung zu finden, die explizit gar kein Schlaf ist.“

Die Dauer von 70 bis 85 Tagen macht das Vendée Globe zu etwas, das „mehr als ein Rennen ist“, wie es Herrmann ausdrückt. Welche andere sportliche Herausforderung pfercht einen so lange in eine Kapsel ein, die sich jederzeit selbst zu zerstören droht, wenn man nicht aufpasst?

Dieses Alleinsein macht mich mürbe.

Boris Herrmann über seine Verzweiflung im Südmeer

Schon Wochen vor dem Start fühlt Boris Herrmann die Last. Er dachte, dass er diesmal gelassener sein würde, ist es aber nicht. Aus der Öffentlichkeit hat er sich weitgehend in einen „Tunnel“ zurückgezogen. „Auf dem Papier sind wir eines der am besten präparierten Teams“, glaubt er. Und dennoch. Der Wahl-Hamburger sieht einen „mentalen Berg“ aufragen, von dem er nicht weiß, wie er ihn erklimmen soll.

Als er am 29. Januar 2021 nach über 80 Tagen auf See wieder seinen Fuß auf Land setzte, schwor er, das Vendée Globe nie wieder absolvieren zu wollen. Der Vorsatz hielt nicht lange. Hatte sich der zum Publikumsliebling avancierte Segler doch bereits vor Beendigung des Rennens die Zusage seiner Sponsoren verschafft, ihn weiterhin zu unterstützen.

Dennoch zog er einen Strich unter seine Erfahrung. Das nächste Boot dürfe ihn nicht mehr in die Verzweiflung treiben, wie er sie im Südpolarmeer erlebt hatte. „Das Boot segelt so scheiße“, hatte er in einer Sprachnachricht geklagt. „Und es hört einfach nicht auf.“

Mit dem Design seiner neuen Imoca-Yacht begab sich Boris Herrmann auf einen Sonderweg. Der voluminöse Bug bohrt sich nicht so leicht in die Wellen. Er ist für die Stürme des Südmeers gemacht.

© JEAN MARIE LIOT

Statt mit hohem Tempo über die ruppige See zu gleiten, wie die seitlich auskragenden Tragflächen es erlauben sollten, bohrte sich das rasende Gefährt nur ständig umso heftiger in die mitlaufenden Wellen und machte Herrmann das Leben schwer. Ständig auf der Hut, ständig um Kontrolle bemüht, geriet er an Grenzen. Er sei wohl doch „nicht der harte Typ“, wimmerte er. „Dieses Alleinsein macht mich mürbe.“

Solche Bekenntnisse fanden Widerhall. Hier war einer gezwungen, in der Isolation sein Innerstes zu offenbaren, um nicht kaputtzugehen, und ein schnell wachsendes Publikum erkannte sich mitten in der Coronapandemie in dem Einsamen wieder, der einem schrecklich-schönen Lebenstraum nachjagte.

Um dem zermürbenden Gefühl zu entkommen, hat er seine Angst zum Ratgeber gemacht. Wenn es gelänge, sich beim nächsten Mal wohler zu fühlen, würde er schneller sein.

So gab Herrmann einen Neubau in Auftrag, der mit den gängigen Designregeln brach und innerhalb der Szene für Verwunderung sorgte. Während die Bootskonstrukteure der so genannten Imoca-Klasse stets einen Mittelweg zwischen Komfort und Geschwindigkeit suchen, verhieß die neue „Malizia“ vor allem eines: Sicherheit. Sie bekam einen breiten, bauchigen Bug und einen klobigen Rumpf verpasst, der sie stabil, aber schwerfällig aussehen ließ.

Sein Team könne „einpacken“, warnte Herrmann nach ersten Tests 2022, wenn das Design nicht schnell sei. „Davon hängt meine Karriere, einfach alles ab.“

Beim Ocean Race umrundete Herrmann die Welt mit einer Crew. Er war erleichtert, dass sein Konzept sich bewährte.

© Antoine Auriol

Nach anfänglichen Schwierigkeiten kam die Erlösung bei einem anderen Großrennen. Das Ocean Race, das seit 1973 in mehreren Etappen um die Welt führt, bestritt Herrmann mit einer vierköpfigen Crew. Auf der „Monster-Etappe“ durchs Südpolarmeer hatten die Konkurrenten mit den üblichen Stop-and-Go-Problemen zu kämpfen, die Herrmann gefürchtet hatte, und wurden mehrfach hart aus der Bahn geworfen, während die „Malizia“ mühelos durch die See barst. Das Etappenziel erreichte das „Malizia“-Team als Erste. Herrmann sollte hinterher sagen, diese Erfahrung habe sein „Leben verändert“.

Später auf dem Atlantik nutzte die „Malizia“-Truppe ein Sturmtief so geschickt, dass ihr ein neuer Weltrekord gelang. In 24 Stunden legte es 641 Seemeilen zurück, was etwa der Luftlinie von Berlin nach Barcelona entspricht. Die Wette, die Herrmann mit seinem Sonderweg abgeschlossen hatte, war gewonnen.

Die größte Prüfung steht erst noch bevor

Vielleicht lief es zuletzt zu glatt. Nach zwei 2. Plätzen bei Transatlantik-Rennen zum „Herrmannator“ ausgerufen, startet der Deutsche dennoch nicht als Topfavorit ins Vendée Globe. Zwar kennt niemand der 40 Teilnehmenden das eigene Boot so gut wie er, doch schätzen Experten die Siegchancen von Charlie Dalin („Macif“), Thomas Ruyant („Vulnerable“), Yoanne Richomme („Paprec Arkéa“) und nicht zuletzt Jérémie Beyou höher ein, allesamt Franzosen, die vom Boom des Sports in ihrer Heimat durch große Budgets profitieren. Wie viel Herrmann in dieser Riege zählt, lässt sich am ehesten daran erkennen, dass zwei der Favoriten sich deutlich von dessen „Malizia II“ inspirieren ließen, um ebenfalls in stürmischen Bedingungen Vorteile zu haben.

Jedes Top-Team folgt einer eigenen Philosophie. Das „ideale Schiff“ wäre eines, erläutert Herrmann im Seglermedium „Yacht“, das auf flachem Wasser superschnell ist – wie Dalins „Macif“ – und dann auch noch gut durch Seegang kommt – wie die „Malizia-Seaexplorer“. Doch beides schließt sich aus. „Was man in einem Bereich gewinnt, verliert man im anderen.“

Beim 48-stündigen Vorbereitungsrennen Defi-Azimuth hatte Herrmann wieder etwas das Nachsehen mit einem 7. Platz.

© Antoine Auriol

Es kommt darauf an, in welcher Phase man das Rennen gewinnen zu können glaubt. Charlie Dalin setzt auf eine frühe Vorentscheidung auf dem Weg in den Süden. In berechenbaren moderaten Bedingungen hofft er, sich abermals einen so großen Vorsprung zu verschaffen, dass er beim Eintritt in die Zugbahnen der südlichen Stürme ein früheres Wettersystem erwischt und kaum einzuholen wäre. Herrmanns Strategie kommt erst im Südmeer zum Tragen. Dem ewigen, von ihm verfluchten grauen Nichts endloser Wochen.

Es ist die Phase des Rennens, in der er am meisten auf sich selbst zurückgeworfen ist, wie er in einer ARD-Dokumentation „Segeln am Limit“ von Jan Zabeil gesteht (Ausstrahlung am 16.11 um 19.10 Uhr). Der Film begleitet Herrmann ein Jahr lang bei den Vorbereitungen. Zum ersten Mal geben auch sein Vater und seine Mutter aufschlussreiche Einblicke in die unkonventionelle Kindheit des Soloseglers.

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Die Mutter trennte sich von Mann und Kind, als Boris zweieinhalb war. „Irgendwann war sie nicht mehr da“, sagt er. Sie spricht von einer „radikalen Entscheidung“, nach Köln zu ziehen und sich ein eigenes Leben aufzubauen. Der „klare Bruch“ sei für ihr Kind „zwischendurch nicht einfach“ gewesen, gibt sie zu.

Boris wird fortan von seinem Vater, einem Lehrer, allein aufgezogen. Wenn dieser Hoffnungen hatte, mehr aus sich zu machen, so stellte er das hintenan. Heute bezeichnet der alte Mann seine Vater-Sohn-Zeit, die sie in den Ferien zu zweit meistens auf einem Boot verbrachten, als „Hauptgewinn“.

Von Kindesbeinen an auf sich gestellt. Boris Herrmann packt an einem Trainingstag ein Segel ein.

© Malizia

Früh schon ist der Junge auf sich gestellt. Wenn sein Vater sich unter Deck schlafen legen muss, steuert der Knirps das Boot selbstständig und wächst bald über das Können seines Autodidakten-Vaters hinaus, wie dieser im Rückblick schmunzelnd bemerkt.

Aber er ist eben auch verlassen worden, und diesen Schmerz stillt der umgängliche, witzige Junge mit engen Banden zu langjährigen Segelfreunden. Zum Solosegler wird er wider Willen, weil der Schritt in die Hochsee-Szene sich für einen Zivildienstleistenden ohne Geld und mit großen Ambitionen am besten beim Mini-Transat bewerkstelligen lässt.

2001 nimmt Herrmann gleich nach seinem Zivildienst in einer Nussschale von sechseinhalb Metern an dem Atlantik-Rennen teil. Er ist der bis dahin jüngste Teilnehmer. Der spätere Vendée-Globe-Sieger Yannick Bestaven gewinnt es.

Das Vendée Globe bringt Herrmann, das weiß er, an einen Punkt, an dem ihm der „Schmerz der Einsamkeit“ besonders stark zusetzt. „Es ist verrückt, dass ich so viel Energie in etwas stecke, bei dem ich mich dann so unwohl fühle. Ich kann es mir nicht erklären.“ Nach dem ersten Vendée Globe habe er einen Psychotherapeuten gesucht, aber niemanden gefunden, „der nachempfinden konnte, was ich durchmache“.

Statt sich also in Gespräche über alte Wunden zu stürzen, diskutierte der Familienvater lieber mit Designern, wie ein Boot ihn besser schützen könnte. Ein Boot, das widrigen Umständen trotzt. Ein Boot, das ihm Sicherheit gibt. Und ein Boot, das schnell ist, wenn alle anderen es nicht sind. Und ihn auch schneller wieder nach Hause brächte. „Die eigenen Schwächen sind die größte Herausforderung“, sagt Herrmann. Er hat seine Schwächen in eine Maschine verwandelt.

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