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Jedem Zauber wohnt ein Anfang inne: Die DFB-Elf hofft auf einen Lahm-Moment
Zuletzt ist die deutsche Nationalmannschaft dreimal mit einer Niederlage in große Turniere gestartet und in der Folge früh gescheitert. Das gilt es bei der Heim-EM zu verhindern.
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An diesem Freitag, abends gegen kurz vor elf, wird das Sommermärchen volljährig. Wenn beim EM-Eröffnungsspiel zwischen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und Schottland die Nachspielzeit anbricht, ist es exakt 18 Jahre her, dass im Dortmunder Westfalenstadion eine Flanke des flinken David Odonkor von der rechten Seite in den Fünfmeterraum des polnischen Strafraums flog.
Oliver Neuville brachte seinen Fuß an den Ball und traf in der ersten Minute der Nachspielzeit zum späten 1:0 für den Gastgeber der Weltmeisterschaft 2006. Damit bescherte er der Nationalmannschaft nicht nur den zweiten Sieg im zweiten Spiel, sondern auch schon den vorzeitigen Einzug ins Achtelfinale. Alle, die damals in Dortmund dabei waren, schwören noch heute, dass sie nie zuvor und nie danach einen derart lauten Torschrei gehört haben.
Die Wehen dieses Sommermärchens hatten schon fünf Tage vorher eingesetzt. Am 9. Juni 2006, um genau 18.05 Uhr, zog Deutschlands Linksverteidiger Philipp Lahm mit dem Ball von außen in den Strafraum von Costa Rica. Er befand sich genau dort, wo die Kreidelinien sich treffen, und schlenzte den Ball mit seinem starken rechten Fuß so präzise ins Toreck, dass zwischen Ball und Gestänge keine Briefmarke mehr passte.
Lahms Treffer war genau das, was die Deutschen nach einer nicht sorgenfreien Vorbereitung brauchten: ein guter Anfang. Am Ende siegte der Gastgeber in der Münchner Arena mit 4:2. Ein Märchen war das noch nicht. Denn bei aller Erleichterung über den geglückten Start blieben nach zwei Gegentreffern gegen einen mäßigen Gegner weiterhin Zweifel an der Belastbarkeit der deutschen Defensive. Erst im zweiten Gruppenspiel gegen Polen wurden sie endgültig ausgeräumt.
An diesem Freitag (21 Uhr, live im ZDF) tritt die Nationalmannschaft wieder in München an. Wieder zum Auftakt eines großen Turniers im eigenen Land. Und wieder nach einer nicht ganz einfachen Zeit. Im Herbst jedenfalls, nach den Niederlagen gegen die Türkei und in Österreich, hätte niemand gedacht, dass das Team des neuen Bundestrainers Julian Nagelsmann ein ernstzunehmender Anwärter auf den EM-Titel sein würde.
Genau das aber ist der Anspruch von Team und Trainer. Und auch wenn es 2006 nicht ganz geklappt hat, weil die Nationalmannschaft im Halbfinale dem späteren Weltmeister Italien unterlegen war: Ein erfolgreicher Start ins Turnier – so wie damals – käme dem aktuellen Team durchaus gelegen. „Es ist schon so, dass in unserem Fall die Stimmung viel vom ersten Spiel abhängt“, sagt Deutschlands Rechtsverteidiger Joshua Kimmich.
Dass ein guter Turnierstart essenziell ist, gehört in Deutschland spätestens seit der Weltmeisterschaft 1990 zur fußballerischen Allgemeinbildung. Damals besiegte die Nationalmannschaft in ihrem ersten Gruppenspiel in Mailand den heimlichen Turnierfavoriten Jugoslawien gleich mit 4:1 und erwischte dabei die Welle, die das Team letztlich bis zum Titel trug.
Wenn’s da klappt, löst das so ein bisschen die mentalen Fesseln.
Nationalspieler Thomas Müller über die Bedeutung des Auftaktspiels
Thomas Müller, für den die Heim-EM bereits das achte große Turnier ist, hat in der Vorbereitung gesagt: „Du hast diese Spannung, die in diesen drei Wochen entsteht. Du arbeitest auf dieses eine Spiel hin. Du hast am längsten Zeit, dir Gedanken zu machen, dass du genau da gut sein willst. Wenn’s da klappt, löst das so ein bisschen die mentalen Fesseln.“
Lange waren die Deutschen mentale Entfesselungskünstler. Beginnend mit der WM 2006 sind haben sie bei insgesamt sechs großen Turnieren nacheinander zum Auftakt gewonnen. Und anschließend schafften sie es immer mindestens ins Halbfinale. Nach 2016 aber, nach der Europameisterschaft in Frankreich, endete diese Serie.
Vor allem begann 2018 in Moskau eine neue Serie. Seitdem gab es zum Auftakt immer eine Niederlage: bei den Weltmeisterschaften in Russland und 2022 in Katar ebenso wie bei der EM 2021. Und tatsächlich entfalteten die Misserfolge zum Start in der Folge eine hemmende Wirkung. Bei den beiden WM-Endrunden war für die Deutschen jeweils schon nach der Vorrunde Schluss, bei der Europameisterschaft vor drei Jahren im Achtelfinale.
„Natürlich hat Argentinien gezeigt, dass es auch anders geht“, sagt Joshua Kimmich mit Blick auf die WM vor anderthalb Jahren. Damals unterlagen die Südamerikaner dem krassen Außenseiter Saudi-Arabien in ihrem ersten Gruppenspiel mit 1:2. Weltmeister wurden sie am Ende trotzdem.
Ein solches Szenario würden die Deutschen nach ihrer Vorgeschichte im Eröffnungsspiel gegen Schottland dennoch liebend gern vermeiden. „Wenn du es nicht gewinnst oder verlierst, sind die Gedanken an die anderen Turniere vielleicht gleich wieder da“, sagt Kimmich. „Wir werden daher alles dafür tun, es zu gewinnen.“
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