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Julian Nagelsmann und seine Experimente: Die Nationalmannschaft ist zurück am Nullpunkt
Bundestrainer Nagelsmann hat ein Faible für das Besondere. Seine Mannschaft aber braucht Klarheit. Das hat die frustrierende Niederlage gegen die Slowakei noch einmal deutlich gezeigt.
Stand:
Joshua Kimmich waltete seines Amtes. Der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft versuchte Trost und Zuversicht zu verbreiten. In diesem Fall unmittelbar vor der Pause vor allem Trost.
Kimmich klopfte Nnamdi Collins zweimal auf die Brust. Nicht unterkriegen lassen, sollte das heißen. Weitermachen. Es kann nur besser werden. Konnte es nicht. Denn kurz darauf endete das Länderspieldebüt für den 21 Jahre alten Rechtsverteidiger von Eintracht Frankfurt. Die zweite Halbzeit des WM-Qualifikationsspiel gegen die Slowakei verbrachte Collins als Zuschauer auf der Ersatzbank der deutschen Mannschaft.
Joshua Kimmich hat 101 Länderspiele bestritten, als Angestellter des FC Bayern München spielt er seit gut einem Jahrzehnt auf höchstem internationalen Niveau – und trotzdem konnte er sich bestens in den Neuling einfühlen. Auch Kimmich hat sein Debüt in der DFB-Elf einst gegen die Slowakei bestritten, auch dieses Spiel im Mai 2016 ging für die Deutschen verloren, und weil sein Gegenspieler bei der 1:3-Niederlage zwei Tore nach Eckbällen erzielte, bekam Kimmich vom „Kicker“ die Note 5,5, was er bis heute nicht vergessen hat.
Man muss Nnamdi Collins also noch nicht abschreiben, weil er am Donnerstagabend in Bratislava eine überschaubare Leistung abgeliefert hatte. Das traf in gleichem Maße auch auf alle anderen deutschen Feldspieler zu, die bei der 0:2-Niederlage zum Einsatz gekommen waren. „Ich hoffe, dass er sich jetzt keinen allzu großen Kopf macht“, sagte Kimmich über Collins. „Er war nicht schlechter als wir alle.“
Vielleicht müssen wir auf weniger Qualität setzen, stattdessen auf Spieler, die alles reinwerfen. Das hätte heute zu einem besseren Ergebnis geführt.
Bundestrainer Julian Nagelsmann
Dass der Frankfurter diesen Abend mit seinen frustrierenden Nebenwirkungen hatte erleiden müssen, das lag auch an Joshua Kimmich. Oder, um genau zu sein: Es lag an Bundestrainer Julian Nagelsmann, der Kimmich ins zentrale Mittelfeld versetzt hatte und damit die rechte Außenbahn für Collins freiräumte.
Von dieser Idee (Kimmich auf der Sechs) wich der Bundestrainer auch nicht ab, nachdem er zur Pause eingesehen hatte, dass die Entscheidung für den Neuling aus Frankfurt nicht die beste gewesen war. „Er hatte keinen superguten Tag“, sagte Nagelsmann über Collins. „Aber ich werde nicht den Spieler, der debütiert hat, verantwortlich machen.“
Als Ersatz für die Außenbahn hätte es durchaus einen geeigneten Kandidaten im Kader gegeben: den Spieler, den der Bundestrainer selbst als den besten Rechtsverteidiger der EM 2024 bezeichnet hat und den er, wie er dieser Tage noch einmal erwähnte, in dieser Rolle für „nach wie vor konkurrenzlos“ hält. Aber Kimmich blieb im Mittelfeld. Stattdessen beorderte Nagelsmann Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt nach rechts – auf eine Position, auf der er nie zuvor gespielt hatte.
Seine Beweggründe hat der Bundestrainer im Nachgang schlüssig erklärt. Als Linksfuß sollte Mittelstädt mit inversen Flanken von der rechten Seite genau den Raum ansteuern, den Nagelsmann in der slowakischen Defensive als ansteuernswert identifiziert hatte, die, wie er es nannte, rote Zone.
Der Bundestrainer kann seine Ideen immer schlüssig erklären. In der Theorie klingt das alles super und wohldurchdacht. Nur in der Praxis funktioniert das eben nicht immer. Das war schon so, als er vor zwei Jahren den wirklich exklusiven Einfall hatte, Kai Havertz als verkappten Linksverteidiger aufzubieten.

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Seine beste und auch erfolgreichste Phase als Bundestrainer hatte Nagelsmann unmittelbar vor, während und nach der Europameisterschaft im eigenen Land – als er die Dinge einfach hielt und seine Mannschaft weder mit Informationen überfrachtete noch mit seinen Ideen überforderte.
Aber der 38-Jährige, dem schon früh eine Hochbegabung für den Trainerjob bescheinigt worden ist, kann nur schwer aus seiner Haut. Er versucht sich immer wieder am Besonderen. Insofern klang es einigermaßen beunruhigend, als Nagelsmann vor dem Start in die WM-Qualifikation ein wenig kryptisch taktische Neuerungen ankündigte.
Weder Dominanz noch Kontrolle
Die sahen in Bratislava dann so aus, dass die beiden Außenverteidiger bei eigenem Ballbesitz so weit aufrückten, dass ihnen eigentlich das -verteidiger aus der Stellenbeschreibung hätte gestrichen werden müssen. Dazu rückte einer der beiden Sechser, in der Regel Joshua Kimmich, beim Spielaufbau neben die Innenverteidiger.
Mehr Dominanz und mehr Kontrolle hatte Nagelsmann sich davon versprochen. Das Gegenteil war der Fall. „Das ganze Konstrukt war extrem instabil“, musste der Bundestrainer zugeben. Die Kombination aus seinen Experimenten und den individuellen Fehlleistungen der Spieler führte dazu, dass die Slowaken in der deutschen Hälfte Räume vorfanden, von denen sie vermutlich nicht einmal zu träumen gewagt hätten.
„Es hat sich das fortgesetzt, was wir leider schon in den beiden Nations-League-Spielen gesehen haben“, klagte Rudi Völler, der Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes. Die Nationalmannschaft tritt auf der Stelle. Man könnte auch sagen: Sie ist jetzt wieder dort angekommen, wo sie vor knapp zwei Jahren schon einmal war – gar nicht weit entfernt von Bratislava übrigens.
Es braucht mehr Hingabe und Leidenschaft
Nach der 0:2-Niederlage gegen Österreich im Ernst-Happel-Stadion von Wien im November 2023 endete Nagelsmanns wilde Phase. Unter dem Eindruck dieser Niederlage entschied er sich für mehr Stabilität. Er entwickelte klare Rollenprofile und sprach erstmals davon, dass sein Team neben all den Künstlern auch mehr Worker, also Arbeiter, brauche.
Nach der 0:2-Niederlage gegen die Slowakei klang der Bundestrainer ähnlich. Er beklagte den Mangel an Emotionalität in seinem Team. „Vielleicht müssen wir auf weniger Qualität setzen, stattdessen auf Spieler, die alles reinwerfen“, sagte er. „Das hätte heute zu einem besseren Ergebnis geführt.“
Dass die Nationalmannschaft mehr Leidenschaft, mehr Hingabe, mehr Kampfgeist (auch bekannt als deutsche Tugenden) braucht, das hat der Abend in Bratislava auf schmerzhafte Weise gezeigt. Die Qualität reicht nicht mehr, um mit der Spitze des globalen Fußballs mitzuhalten, schon mal gar nicht, wenn auch noch einige potenzielle Stammspieler ausfallen.
Wenn Nagelsmann an seinem Ziel, bei der WM im kommenden Jahr den Titel zu gewinnen, festhalten will, dann muss das Team diesen Mangel auf andere Weise kompensieren. Andernfalls läuft der Bundestrainer Gefahr, sich lächerlich zu machen. Julian Nagelsmann sagte in Bratislava: „Ich stehe mit dieser Aussage, Weltmeister werden zu wollen, heute Abend natürlich dumm da.“
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