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Kolumne „Inklusiv“: Integration funktioniert auch in inklusiven Schulen nicht immer
Inklusive Schulen haben das Ziel, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen und Sport treiben, was allerdings nicht überall gut funktioniert und auch zu wenig Auswirkungen auf das spätere Arbeitsleben hat.
Stand:
In Deutschland leben acht Millionen Menschen mit einer Behinderung. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Jahr 2008 in Kraft getreten. Diesen Vertrag hat Deutschland ein Jahr später unterschrieben. Diese Konvention fordert ein inklusives Bildungssystem, das allen den Zugang zur Bildung ermöglicht. Damit auch Menschen mit einer Behinderung ein Recht haben, eine normale Schule zu besuchen, wurden nach und nach die Förderschulen abgebaut.
Im Jahr 2022/23 gab es nur noch 2795 Förderschulen. Die inklusiven Schulen haben das Ziel, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen, wobei die Förderquote bei 7,74 Prozent liegt. Um zu erfahren, wie Schüler mit und ohne Beeinträchtigungen in einer inklusiven Schule gemeinsam lernen und gefördert werden, habe ich die Erich-Kästner-Schule in Hamburg besucht. In einer Inklusiven Schule wie dieser Schule ist der Unterricht eine Herausforderung.
In der Englischstunde ist es unruhig, ähnlich wie auf dem Schulhof. Zu Beginn arbeiten die Schüler*innen mit beschrifteten Plakaten. Sie sagen auf Englisch, was darauf zu sehen ist. Danach wird ihnen aus dem Englisch-Buch per CD vorgelesen.
Die Schüler sprechen durcheinander. Man hat den Eindruck, dass der Unterricht für die Lehrerin herausfordernd ist. Manchen Schüler*innen hilft sie beim Schreiben. Die Inklusions-Beauftragte der Erich-Kästner-Schule, Astrid Jung, erklärte, dass dieser Lärm halb so schlimm sei. Sie sagte, dass es ruhige und laute Lernphasen gibt.
Die Lehrer*innen schauen aber immer darauf, dass sich die Schüler*innen konzentrieren können. Es gibt zum Beispiel Schüler*innen im Autismus-Spektrum, die sich gerne Kopfhörer aufsetzen. Das dämpft den Klassenlärm und hilft der Konzentration. Es wird darauf geschaut, dass alle im Unterricht mitkommen. Schulsprecher Jephthah erzählt: „Wir haben Arbeitspläne mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Sie sind für die Schüler angepasst.“
Für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung ist ausreichende Bewegung wichtig. Nach einer aktuellen WHO-Studie bewegen sich rund 84 Prozent der 11 bis 17-Jährigen in Deutschland nicht ausreichend. Laut „Aktion Mensch“ machen 55 Prozent der Menschen mit Behinderungen keinen Sport, im Vergleich zu lediglich 28 Prozent bei Menschen ohne Behinderung. Das liegt vor allem an fehlenden ortsnahen inklusiven Sportangeboten und mangelhafter Zugänglichkeit.
Daher ist es wichtig, dass an Schulen ein inklusives Sportprogramm angeboten wird. Im inklusiven Sportunterricht werden die Bedürfnisse der Schüler mit ihren Stärken und Schwächen berücksichtigt, weshalb der inklusive Sportunterricht in inklusiven Schulen eine besondere Bedeutung hat.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich herrscht ein Mangel an Schulbegleiter*innen
Ich habe den Sportunterricht in einer Hamburger Schule besucht, um zu erfahren, wie dort Schülerinnen mit und ohne Behinderung gemeinsam Sport treiben. Die Sportstunde beginnt damit, dass die Kinder durch die Turnhalle laufen. Danach werden drei Reihen gebildet. Beim Aufstellen der Reihe zanken sich ein paar Schüler*innen. Der Schulbegleiter schreitet ein und versucht die Schüler*innen zu beruhigen. Doch nicht in jeder Schule gibt es einen Schulbegleiter.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich herrscht ein Mangel an Schulbegleiter*innen. Das zeigt zum Beispiel ein Schattenbericht zur Situation von Menschen mit Behinderungen in Österreich aus dem Jahr 2020, der vom österreichischen Monitoring-Ausschuss veröffentlicht wurde. Der Bericht zeigt, dass Schulbegleiter*innen noch nicht überall da eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden. Aber es gibt auch zu wenige Lehrer*innen. Zu Beginn dieses Schuljahres ging das deutsche Schulportal davon aus, dass in Deutschland bis zu 40.000 Lehrkräfte fehlen.
Die Umsetzung von Inklusion im Sport ist nicht ausreichend. Obwohl das Verbandswesen des Sports über seine Fach-, Spitzen- und Landesverbände diverse Qualifizierungsmaßnahmen zur Umsetzung von Inklusion anbietet, sind diese nicht verpflichtend. Der DOSB fordert in diesem Zusammenhang ein Bundesförderprogramm für die Sport-Infrastruktur und beziffert den Sanierungsbedarf für alle Sportstätten in Deutschland auf etwa 31 Milliarden Euro in seinen „10 Thesen zur Sanierung von Sportanlagen“. Für mich bedeutet Inklusion im Sport, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Sport treiben und ausreichend Sportangebote vorhanden sind. Es ist wichtig, dass alle Sportstätten barrierefrei sind, damit auch Rollstuhlfahrer dort Sport treiben können.
Ich fand es cool, weil man auch Schülern helfen konnte.
Jacob, 13, besuchte lange eine inklusive Schule
Wie Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam in einer inklusiven Schule lernen, das habe ich den 13-jährigen Schüler Jacob aus Berlin befragt, der von der zweiten bis zur sechsten Klasse eine inklusive Schule besucht hat. Ich wollte wissen, wie er eine solche inklusive Schule erlebt hat. Er sagte mir, dass er das gemeinsame Lernen und die gegenseitige Unterstützung schätzte, was ihm Freude brachte. „Ich fand es eigentlich schon ganz angenehm“, sagte er.

© picture alliance / dpa/Fredrik Von Erichsen
„Man hatte immer auch eine Betreuerin, die für die Schüler da war, die ein bisschen Betreuung brauchten, und sie war ziemlich nett. Ich fand es cool, weil man auch Schülern helfen konnte. Und sie waren auch immer nett. Ich fand es auch lustig, mit ihnen etwas zu machen, weil sie immer sehr kreativ waren und tolle Ideen hatten. Wenn man etwas mit ihnen gemacht hat, konnte man sich auf sie einlassen, weil sie immer sehr begeisterungsfähig waren.“ Jacob sagte, dass die Schüler in seiner Klasse richtig gut gefördert wurden. „Wir hatten besondere Fächer, die wir wählen konnten. Es wurden dort drei bis vier Schüler von zwei Betreuern betreut und gefördert.“
Es gibt auch Kritik an inklusiven Schulen: Manche behaupten, dass Menschen mit Förderbedarf dort nicht so gut gefördert und unterstützt werden, sowie nicht so gut lernen können wie in Sonderschulen aufgrund des hohen Leistungsdrucks und des Mobbings. Laut einer Umfrage der Kaufmännischen Krankenkasse erleben 30 Prozent der Schüler Leistungsdruck, Angst und Stress vor Prüfungen.
Trotz des Ausbaus von inklusiven Schulen sollten Förderschulen nicht abgeschafft werden
Trotz des Ausbaus von inklusiven Schulen sollten Förderschulen meiner Ansicht nach nicht abgeschafft werden, da es Schüler gibt, die sich bei einer solchen Schule wohler fühlen als bei anderen Schulen. Mein Freund Richard, der gemeinsam mit mir eine Förderschule besucht hat, betrachtet inklusive Schulen skeptisch. Seiner Meinung nach besteht der Nachteil darin, dass Menschen mit Handicap möglicherweise als minderwertig oder weniger komplex angesehen werden könnten, weil sie langsamer lernen als ihre nicht-behinderten Mitschüler.
Richard ist der Ansicht, dass Menschen ohne Behinderung sich mehr Wissen aneignen können oder mehr Dinge verstehen als Menschen mit Handicap. Damit Schüler mit einem Förderbedarf zurechtkommen, müssen sich die inklusiven Schulen noch in einigen Bereichen verbessern: Mehr Barrierefreiheit sowie Lehrer*innen mit Zusatzausbildung als Förderschullehrer sind notwendig. Allerdings gibt es Probleme mit dem Personalmangel – nicht jeder Lehrer hat eine entsprechende Ausbildung. Zudem benötigen Förderschüler in bestimmten Bereichen mehr Zeit als ihre nicht-behinderten Mitschüler.
In anderen Ländern ist die Inklusion in Schulen weiter fortgeschritten als hier in Deutschland. In Italien werden Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet. Bei Bedarf können sie auf speziell angepasste Betreuung in einzelnen Fächern zurückgreifen. Jeder Schüler in Italien hat außerdem die Möglichkeit, einen individuell auf seine Lernvoraussetzungen zugeschnittenen Bildungsplan zu nutzen.
In Kanada ist barrierefreier Zugang und eine entsprechende Ausstattung der Schule Pflicht
Dieser wird von Schülern, Lehrkräften, Eltern und geschulten Fachkräften gemeinsam erarbeitet. Kinder und Jugendliche mit Inklusionsbedarf haben zusätzlich ein Recht auf eine angepasste und differenzierte Bewertung ihrer Leistungen sowie auf alle benötigten zusätzlichen Lernmaterialien, um dem Unterricht bestmöglich folgen zu können. Zudem wird kostenloser Schultransport für alle Schüler mit Beeinträchtigung bereitgestellt.
In Kanada ist barrierefreier Zugang und eine entsprechende Ausstattung der Schule Pflicht. Seit 1986 werden Schüler mit Behinderungen bis zur neunten Klasse gemeinsam mit anderen Schülern unterrichtet. Sie werden dabei von Therapeuten und Sonderpädagogen unterstützt. Es gibt auch „Educational Assistants“, die den Kindern mit Unterstützungsbedarf im Unterricht helfen können.
Bei Bedarf erhalten die Schüler Hilfe in externen Räumen, ohne den Unterricht für den Rest der Klasse zu unterbrechen. Finnland hat in den letzten 30 Jahren rund zwei Drittel seiner Sonderschulen abgeschafft. Der Förderunterricht besteht weiterhin in sogenannten „Tupa“ (finnisch für „Schutzraum“). Jeder Schüler wird auf Lernschwierigkeiten getestet, erhält Nachhilfepläne zugewiesen und wird durch eine umfassende Förderstruktur begleitet. Die Unterstützung im regulären Unterricht steht dabei im Mittelpunkt. Wer in der Klasse nicht mithalten kann, wird gezielt im Tupa gefördert, zusammen mit anderen Schülern und einem Speziallehrer.
Einige Arbeitgeber zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe, statt Menschen mit Behinderung einzustellen
Ich habe selbst Erfahrungen mit dem Lernen an einer Förderschule gesammelt, da mir das Rechnen und Schreiben sowie das Lernen schwerfielen. Meiner Meinung nach bietet eine solche Schule den Vorteil, dass man entsprechend seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten gefördert wird und der Leistungsdruck nicht so hoch ist wie in anderen Schulformen. Die Vorteile von inklusiven Schulen könnten sein, dass Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen und den Umgang mit Inklusion und Teilhabe erlernen. Das Problem nach der Schulzeit ist, dass sich die Inklusion trennt, weil viele Menschen mit Beeinträchtigungen in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen landen, da der Arbeitsmarkt nicht inklusiv ist. Es sind etwa 320.000 Menschen mit Behinderung in Werkstätten beschäftigt.
Einige Arbeitgeber zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe, statt Menschen mit Behinderung einzustellen. Mit 20 Mitarbeitern müssen sie fünf Prozent Menschen mit Behinderungen einstellen. Wenn sie sich daran nicht halten, müssen sie seit Januar 2024 eine Ausgleichsabgabe von 720 Euro pro Monat zahlen. Menschen, die in einer Werkstatt arbeiten, haben dort ein arbeitgeberähnliches Rechtsverhältnis. Das heißt, sie haben dort einen geschützten Arbeitsplatz, bekommen aber nur ein Tagegeld von ungefähr 200 Euro pro Monat. Dank der Grundsicherung wird der Lebensunterhalt gesichert. Die Werkstatt verstößt so gegen die Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention.
Laut Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderungen das Recht auf Arbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Dieses Recht schließt die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen. Nach der inklusiven Schulzeit muss es also auch mehr inklusive Arbeitsplätze geben.
Nikolai Prodöhl ist Journalist. Er hat eine Lern- und Sprachbehinderung und schreibt seit September nun im Tagesspiegel eine Kolumne.
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