Sport: Manische Mannschaft
Bayer Leverkusen unterliegt extremen Schwankungen und spielt auch so
Im Grunde ist es bewundernswert, wie die Spieler von Bayer Leverkusen mit ihrer Krise umgehen. Sie tun einfach so, als gäbe es sie nicht. Bernd Schneider zum Beispiel. Zu Beginn der zweiten Halbzeit des Uefa-Cup-Viertelfinales legte er den Ball an seinem Gegenspieler aus St. Petersburg vorbei, so wie er das schon hunderte Male in seiner Karriere getan hat. Dann sprintete er hinterher, doch anders als sonst schien er überhaupt nicht vom Fleck zu kommen. Nichts und niemand illustriert die Situation von Bayer Leverkusen derzeit besser als Bernd Schneider. Die Mannschaft tritt auf der Stelle, und die Konkurrenz zieht problemlos an ihr vorbei. „Das Ganze an Bernd festzumachen, wird ihm nicht gerecht“, sagte Bayers Trainer Michael Skibbe nach der 1:4 (1:1)-Heimniederlage gegen den Russischen Meister. „Es liegen so viele so deutlich neben der Spur, dass für uns nichts drin war.“
Es ist erst ein paar Wochen her, dass die Leverkusener nicht nur für ihren schönen und durchdachten Fußball besungen wurden, sondern sogar als Anwärter auf die Deutsche Meisterschaft gehandelt wurden. Derzeit aber erlebt die Mannschaft einen derart dramatischen Verfall, dass ein Teil der Zuschauer im Spiel gegen St. Petersburg mit irrsinnigen „Skibbe raus!“-Rufen reagierte. Kein einziger Leverkusener Spieler erreichte am Donnerstag auch nur annähernd seine normale Form, die Mannschaft reihte Fehler an Fehler, nichts stimmte bei niemandem. Jedes Zuspiel geriet entweder den entscheidenden Tick zu kurz oder zu lang, zu schnell oder zu langsam, zu hart oder zu weich. „Es ist schwer zu erklären“, sagte Skibbe. „Viele Spieler sind nicht in der Form, in der wir sie kennen und schätzen.“
Begonnen hat die Krise nach Skibbes Beobachtung schon vor fünf oder sechs Wochen, aber erst jetzt schlägt sie voll durch. Vier der jüngsten fünf Spiele hat Bayer nun verloren, im Uefa-Cup wird die Mannschaft nach der Niederlage gegen St. Petersburg wie im Vorjahr im Viertelfinale ausscheiden, und in der Bundesliga droht in der aktuellen Verfassung schon am Wochenende, beim Spiel in Dortmund, der Sturz aus den Europapokalrängen. „Die Gefahr besteht“, sagte Bayers Sportdirektor Rudi Völler. „Es ist kein Zufall, dass wir schon in den letzten zwei, drei Wochen nicht so brillant gespielt haben.“
St. Petersburg nutzte die auffälligen Schwächen mit eisiger Konsequenz. „Gebt ihnen nie das Gefühl, dass sie das Spiel machen können!“, hatte Zenits Trainer Dick Advocaat seinen Spielern vor dem Anpfiff aufgetragen. Wahrscheinlich hätte er ihnen das gar nicht sagen müssen. Die Leverkusener wären derzeit auch ohne Gegner auf dem Platz vermutlich nicht in der Lage, das Spiel zu machen. Ihr größter Gegner sind – sie selbst. „Das Passspiel ist zu unsicher, zu unpräzise, die Spieler rücken nicht geschlossen nach“, klagte Skibbe. Es mangelt an allem, was die Mannschaft stark gemacht hat. Bayers Hilflosigkeit im Kampf mit den cleveren Russen und deren extrem flinken Stürmern trug fast slapstickhafte Züge. „Wir sind alle sehr ernüchtert“, sagte Skibbe. „Die Selbstsicherheit stimmt nicht mehr.“
In diesen Wochen zeigt sich, dass Bayer eine manische Mannschaft hat, deren Funktionieren ganz extrem von der Form und Stimmung einzelner Spieler abhängt. Das gilt im Guten, wie in der Vorrunde und zu Beginn der Rückrunde zu sehen war, aber auch im Schlechten, wie es sich nun erweist. Die Schwankungen sind auch der Unerfahrenheit des Kaders geschuldet und dessen geringem Durchschnittsalter. Bayer selbst hat für diese Saison einen Platz im Uefa-Cup angestrebt, nicht die Champions League oder die Meisterschaft. Die Krise kommt dem Verein zwar höchst ungelegen, aber im Grunde nicht überraschend; überraschend ist eher, dass sie so lange auf sich hat warten lassen.