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Johann Andre Forfang (l) und Marius Lindvik versuchen ihre Unschuld zu beteuern. Doch das nimmt ihnen kaum jemand ab.

© dpa/Hendrik Schmidt

„Mit den neuesten Nachrichten bekomme ich schon den nächsten Würgereiz“: Das Skispringen verarbeitet Norwegens Anzug-Skandal

Nach den Manipulationen am Material gibt es vehemente Kritik am Umgang des WM-Gastgebers mit dem Skandal. Wie es mit der Sportart nun weitergeht, ist derzeit völlig offen.

Stand:

Am ersten Tag nach dem Ende der Nordischen Ski-WM in Trondheim herrscht rund um das Skispringen eine Mischung aus Frust und einer gewissen Leere. Nach der Manipulation der norwegischen Anzüge stellt sich natürlich die Frage, wie es nun überhaupt weitergehen wird für die Disziplin.

Ausgerechnet in Oslo steht am Donnerstag bereits das erste Einzel-Springen nach den unsäglichen Machenschaften des Gastgeber-Teams an, die auf einem Video aufgezeichnet wurden. Hier ist zu sehen, wie die Nähte der Anzüge von Johann André Forfang und Marius Lindvik unerlaubt verändert werden, damit die Springer ein besseres Fluggefühl bekommen. Cheftrainer Magnus Brevig ist dabei anwesend. Am Montag wurde er suspendiert.

Nachdem der Fall öffentlich geworden war, kam das norwegische Team am Sonntagnachmittag nicht umhin, sich zu entschuldigen. Sportdirektor Jan Erik Aalbu räumte den Betrug ein und bat um Entschuldigung für den Vertrauensbruch, versuchte aber gleichzeitig, sich selbst und auch die betroffenen Springer als unwissend aus der Schussbahn zu bringen.

Lindvik hatte in diesem Winter große Mühe

Sven Hannawald, der bis dato letzte deutsche Sieger bei der Vierschanzentournee, hat die Vorgänge als ARD-Experte hautnah begleitet. Nachdem er bereits die Vorgänge des norwegischen Teams nur schwer ertragen konnte, ist er außer sich vor Wut angesichts der Art und Weise, wie das norwegische Team nun versucht, mit diesem Skandal umzugehen.

„Mit den neuesten Nachrichten bekomme ich schon den nächsten Würgereiz, weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass sich alle Beteiligten versuchen herauszureden und angeben, nichts davon gewusst zu haben, um diesem Betrug zu enteilen“, sagt er dem Tagesspiegel.

Sportdirektor Jan Erik Aalbu gab die Schuld seines Teams zu, will von den Vorgängen aber nichts gewusst haben.

© Imagi/NTB/Terje Pedersen

Wir sind beide völlig am Boden zerstört. Keiner von uns wäre mit einem Anzug gesprungen, von dem wir gewusst hätten, dass er manipuliert war. Niemals“, wurden Lindvik und sein Kollege Johann André Forfang in einer gemeinsamen Verbandsmitteilung zitiert.

„Bei einer so sensiblen Sportart wie Skispringen, wo du kleinste Veränderungen spürst, wollen sie mir erzählen, dass sie das nicht fühlen“, zürnt Hannawald. „Wenn das so wäre, wären sie die blindesten Springer, die es auf dem Planeten gibt“

Ein Marius Lindvik hatte teils größte Mühe, sich überhaupt für den zweiten Durchgang zu qualifizieren.

Skisprung-Experte Sven Hannawald

Eine gewisse Ungeschicktheit muss derzeit aber gerade auch dem internationalen Weltverband (Fis) unterstellt werden. Insbesondere was Marius Lindvik betrifft, der von der Normalschanze bereits die Goldmedaille vor Andreas Wellinger gewonnen hatte und von der Großschanze den zweiten Platz belegt hatte, ehe die Disqualifikation öffentlich wurde.

„Ein Marius Lindvik hatte teils größte Mühe, sich überhaupt für den zweiten Durchgang zu qualifizieren“, erinnert sich Hannawald an einige Auftritte des Norwegers in dieser Saison, „mit der gleichen Technik wird dieser Springer nun plötzlich Weltmeister in Trondheim.“

Wellinger wurde von Lindvik auf der Normalschanze geschlagen

Wellinger hatte sich bei der Rückreise nach Deutschland bereits via Instagram zu den Vorgängen geäußert. „Was wäre denn bei den anderen Wettkämpfen gewesen, wo ich sehr nah dran war und wir als Team sehr nah dran waren? Mit den Gedanken geht es jetzt erstmal ab nach Hause“, sagte Wellinger nachdenklich.

Der Deutsche Skiverband (DSV) sowie die Teams aus Österreich, Slowenien und Polen sind stinksauer und beklagen einen gewaltigen Imageschaden für die gesamte Sportart. „Das macht einen schon sprachlos, wenn man sich vor Augen führt, wie hier offensichtlich ohne jegliche Skrupel manipuliert wurde“, teilte Vorstandsmitglied Stefan Schwarzbach auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit.

Der DSV fordert vom Weltverband Fis eine lückenlose Aufklärung, hat sich dem Protest der drei weiteren Nationen aber nicht angeschlossen. Diese forderten am Samstag nicht nur den Ausschluss für das Skisprung-Einzel, sondern die Annullierung aller norwegischen WM-Ergebnisse im Skispringen sowie in der Nordischen Kombination. „Wir wollen keine Lynchjustiz, sondern ein faires und transparentes Vorgehen“, fügte Schwarzbach an.

Die Österreicher sind in ihren Aussagen noch deutlich schärfer. Geschäftsführer Christian Scherer schimpfte nach der norwegischen Pressekonferenz auf seinen norwegischen Amtskollegen: „Es gab null Einsicht. Das war sehr eigentümlich, arrogant und nicht sehr glaubwürdig. Auf die wesentlichen und offensichtlichsten Fragen hat er keine Antworten gegeben.“ Polens Cheftrainer Thomas Thurnbichler redet gar nicht mehr mit Norwegens Verantwortlichen.

Nordischer Kombinierer wurde ebenfalls disqualifiziert

Hannawald vertritt die Meinung, dass es nun ein klares Zeichen braucht. „Wenn man zu weich mit diesem Thema umgeht, wissen die anderen Nationen natürlich, dass trotz eines Betrugs nicht viel passiert ist“, sagt er. „Klar, die Norweger werden für diesen einen Wettkampf disqualifiziert, weil klar ist, welches Material genutzt wurde. Aber für die anderen Wettkämpfe gibt es keine ,klaren Beweise‘ und sie behalten ihre Medaillen.“ Der Nordische Kombinierer Jörgen Grabak war wegen einer unerlaubten Bindung Tage zuvor ebenfalls disqualifiziert worden.

Der frühere Ausnahmespringer Hannawald ist der Meinung, dass auch die Frauen und die Nordischen Kombinierer von potenziellen Sanktionen betroffen sein müssten. „Als Zeichen, dass alle merken, dass ein solches Handeln ein absolutes No-go ist. Wenn man jetzt zwei, drei Springer für einen Wettkampf rausschmeißt, lachen sich alle ins Fäustchen.“

Die restliche sportliche Saison dürfte jedenfalls maximal eine Randnotiz bleiben. Stattdessen wird es um die Aufklärung des Skandals und die Schlussfolgerungen der mit einer Kommission ermittelnden Fis gehen.

Wenn die seit diesem Winter eingeführten Kontrollchips an den Anzügen wirklich so große Sicherheitslücken aufweisen, wie nun im WM-Chaos vermutet wurde, droht dem Weltverband ein Fiasko von ganz anderem Ausmaß. Dann dürfte der Ausgang und die Wertung sämtlicher Springen in dieser Saison auf dem Prüfstand stehen. (mit dpa)

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