
© IMAGO/Ralf Kuckuck
Orchideensport in der Lagerhalle: Anita Raguwaran scheidet im Para-Boccia aus
Im Präzisionssport holt Anita Raguwaran am Donnerstag den allerersten Sieg einer deutschen Bocciaspielerin bei den Paralympics. Am Folgetag muss sie sich geschlagen geben.
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An einem verregneten Freitagnachmittag haben sich im Süden von Paris ein paar hundert Menschen in einem größeren Gebäudekomplex eingefunden, der von außen und innen den Anschein einer leer stehenden Lagerhalle macht. Gäbe es da nicht die acht grün überzogenen Linoleumfelder, die von zwei hochschießenden Tribünen flankiert werden. Auf diesen wird frenetisch geklatscht und gepfiffen, wenn ein Ball an seinen vorgesehenen Ort kullert.
Boccia ist Typ Präzisionssport: Die meisten werden es aus Stadtparks kennen, in denen die alternde deutsche Gesellschaft sich mancherorts gar eigene Bahnen gebaut hat, weil man bei einem Präzisionssport schließlich nichts dem Zufall überlassen darf. Bei den Paralympics ist es seit 1984 vertreten, als Sport für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer. Dabei nie der große Publikumsmagnet, immer etwas für die Feinschmecker.
Psychologische Tricks, selbst gemachter Druck
Die Besonderheit dieser Orchideensportart liegt darin, dass jederzeit völlig überraschende Wendungen möglich sind. So können die Würfe der Athletinnen und Athleten sowohl offensiv dem Spielziel dienen, die eigenen Bälle möglichst nahe an die anfangs aufgeworfene weiße Kugel zu platzieren, als auch die sorgsam ausgeworfenen Spielobjekte des gegnerischen Spielers hinweg zu bugsieren. Um diese Möglichkeiten klug auszutarieren, dürfen die Spieler während der Partie aufs Feld fahren oder sich fahren lassen.
Dafür haben sie Zeitkontingente zur Verfügung, die sie sich auf die verschiedenen Würfe aufteilen. Wer diese Kontingente für sich auch psychologisch zu nutzen weiß, indem er zum Beispiel das Momentum des Gegners nach einem erfolgreichen Wurf durch Hinauszögern unterbricht, verschafft sich Vorteile. Irgendwann ist der brausende Regen von Paris so laut, dass man glaubt, die Stadiondecke werde nachgeben. Unten werfen sich die Athletinnen schon mal ein, bevor in einer Stunde ihr Wettkampf losgeht.
Mit dabei: Anita Raguwaran, die zu diesem Zeitpunkt als einzige Deutsche noch Chancen auf die Endrunde hat. Am Tag zuvor gelang es ihr bereits, als erste weibliche deutsche Bocciaspielerin jemals einen Sieg bei den Paralympics einzufahren. Am Freitag stand sie gegen die Brasilianerin Laissa Polyana Teixeira vor dem entscheidenden Spiel um das Erreichen der K.-o.-Runde.
Dass dies ein schwieriges Unterfangen wird, zeigt sich bereits in den ersten Sätzen, die ziemlich knapp, erst in die eine, dann in die andere Richtung kippen. Raguwaran wirft an diesem späten Nachmittag nicht ihre besten Bälle. Später sagt sie, dass sie sich selbst Druck gemacht habe, das Spiel gewinnen zu müssen, und dass mehr drin gewesen wäre.
Nächste Ziele: Facharztprüfung und Los Angeles 2028
Gegen Ende der Partie zieht ihr die Brasilianerin nach Punkten davon und sichert sich das Endrundenticket. Für die deutsche Athletin sind die Paralympics dennoch eine berauschende Erfahrung gewesen: „Das hab ich so noch nie erlebt. Da muss das Gehirn noch viel verarbeiten“, erzählt sie und spricht von einer „schönen Gemeinschaft“ im paralympischen Dorf.
Neben der Reflexion der paralympischen Erfahrung steht für deutsche Bocciaspielerin demnächst auch viel Arbeit an: In ein paar Monaten wird sie ihre Prüfung zur Fachärztin absolvieren. Danach wolle sie sich überlegen, wie sich Beruf und Sport vereinen lassen. Dabei fest im Blick: Die Paralympischen Spiele 2028 in Los Angeles.
Als in Paris draußen die Abenddämmerung beginnt, werden die Athletinnen von Freunden und Familie warm in Empfang genommen. Boccia bleibt in den Vorrunden ein Sport, dessen Publikum zu großen Teilen aus dem persönlichen Umfeld der Sportlerinnen und Sportler besteht.
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