
© AFP/Dimitar Dilkoff
Paralympics-Werkstatt: „Die kaputte Schraube muss auch in zehn Jahren noch ausgetauscht werden“
Im paralympischen Dorf wird geschraubt und geschweißt – und erstmals auch 3D-gedruckt. Ein 164-köpfiges Team von ottobock repariert die Rollstühle und Prothesen der Athleten.
Stand:
Herr Napp, Sie arbeiten als Techniker für den Prothesenhersteller ottobock. Das Unternehmen blickt auf eine fast 100-jährige Firmenhistorie zurück. Wie sahen die Prothesen zur Gründungszeit aus?
Zunächst wurde jede Prothese individuell von einem Orthopädietechniker hergestellt. Sie bestanden aus Holz und hatten wenig Funktion. Kniegelenke funktionierten wie Türscharniere. Ein Gummizug bewegte das Knie nach vorn. Otto Bocks Idee war, Prothesen mit einem Stecksystem zu einem industriellen Massenprodukt zu machen.
Seitdem hat sich viel verändert.
Insbesondere bei den Materialien hat sich viel getan. Statt aus Holz werden Prothesen heute beispielsweise aus Carbon gefertigt. Das macht sie leichter und stabiler. Außerdem gibt es heute mechatronische Kniegelenke, ausgestattet mit Elektronik und Sensoren.
Wie wirken sich diese Fortschritte auf den Alltag der Anwenderinnen und Anwender aus?
Grundsätzlich wird versucht, den bestmöglichen biomechanischen Aufbau zu erzielen. Das bedeutet, dass das Gehen so intuitiv und sicher wie möglich wird. Dazu kommt, dass die Bewegungen heute viel natürlicher wirken und die Prothese so weniger auffällt.
Das Unternehmen hat eine enge Bindung zu den Paralympics und seinen Athletinnen und Athleten. Warum liegt Ihnen dieses Thema so am Herzen?
Unser unternehmerisches Leitziel ist es, Menschen wieder mobil zu machen. Dafür sind die Paralympischen Spiele natürlich ein Paradebeispiel. Die Athletinnen und Athleten sind nicht nur mobil, sondern erzielen sportliche Höchstleistungen. Das möchten wir selbstverständlich unterstützen.
Wie entstand die Idee, mit einer Werkstatt bei den Paralympischen Spielen präsent zu sein?
Der Gedanke kam australischen Technikern bei den Sommerspielen 1988 in Seoul. Zu dieser Zeit kamen die ersten Carbon-Prothesen zum Einsatz. Mit dem technischen Fortschritt vergrößerte sich jedoch auch das Risiko eines Defekts. Um im Notfall helfen zu können, entschlossen sich vier Techniker, die Sportlerinnen und Sportler mit einer Servicewerkstatt zu unterstützen.
Wie viele Techniker sind es heute?
Dieses Jahr sind wir mit 164 Leuten in Paris.
Wie bereitet man sich als Unternehmen auf ein solches Großereignis vor?
Bei uns ist nach den Paralympics vor den Paralympics. Die Vorbereitungen für Paris haben direkt nach den Winterspielen in Peking begonnen. Wir schauen uns den Ort an. Außerdem sprechen wir mit dem Veranstalter. Es ist wichtig, dass wir bereits vorab wissen, welche Flächen wir zur Verfügung haben, damit wir einen Werkstattplan erstellen können.
Was steht alles auf diesem Werkstattplan?
Grundsätzlich muss man unterscheiden zwischen unserer Hauptwerkstatt und weiteren kleineren Werkstätten. Die Hauptwerkstatt ist etwa 600 Quadratmeter groß und befindet sich direkt im paralympischen Dorf. Sie ist mit einem Lager ausgestattet. Außerdem gibt es einen Empfangsbereich, einen Maschinenraum sowie einen Schweißerbereich. Dazu kommt ein Anprobenbereich. In der heutigen Zeit kommen zu den klassischen Werkbankblöcken auch digitale Arbeitsplätze.
Gibt es für Ihre vielen Kolleginnen und Kollegen und Sie denn auch ein ottobock-Dorf?
Es gibt ein ottobock-Hotel. Trotz der 31 verschiedenen Sprachen geht es da immer familiär zu. Man kommt als Fremder und geht mit Freunden. Die Stimmung ist immer unbeschreiblich gut.
Neben einer guten Stimmung innerhalb des Teams, hat auch der Sport die Möglichkeit, magische Momente zu erschaffen.
Die Zeit bei den Paralympischen Spielen ist immer intensiv. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine meiner ersten Reparaturen. Ein Speerwerfer der Kapverdischen Inseln hatte kurz vor den Spielen stark abgenommen. Daraufhin hat seine Prothese nicht mehr gepasst. Sein Arzt hat ihm empfohlen, nicht am Wettbewerb teilzunehmen. Durch die Reparatur konnten wir es ihm ermöglichen, doch noch anzutreten. Auch heute – Jahre später – kommt er gelegentlich noch in der Werkstatt vorbei. Jetzt allerdings als Trainer.
Ihre Unterstützung machen Sie nicht von der Marke der Prothese abhängig. Stoßen Sie in der Werkstatt auch auf Innovationen?
Jede Sportprothese ist individuell angefertigt. Insbesondere in Ländern mit kleinerem Budget regt das die Kreativität an. Dabei kommt es natürlich vor, dass es spezielle, aber auch innovative Lösungen gibt.

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Woran denken Sie bei speziellen Lösungen konkret?
Ich kann mich an eine Prothese für das Schießen erinnern. Der Sportler sitzt normalerweise im Rollstuhl und verwendet keine Prothese. Für die Wettkämpfe wurde ihm eine Prothese aus einem thermoplastischen Material, das um einen Holzbalken gelegt wurde, angefertigt. Ihren Zweck hat sie damit erfüllt. Dazu war die Anfertigung sicherlich schnell und wenig kostenintensiv.
Welchen Einfluss können ausgereifte und gut angepasste Prothesen auf den Erfolg eines Sportlers oder einer Sportlerin haben?
Die Bedeutung kann man gut mit der Bedeutung des Fahrrads bei der Tour de France vergleichen. Wer hierbei erfolgreich sein möchte, sollte nicht mit einem Mountainbike ankommen. Gerade in der Leichtathletik ist es besonders wichtig, passende Prothesen zu haben. Wenn sich das Equipment vor dem Wettkampf leicht verstellt oder beschädigt wird, ist es selbst für Top-Athletinnen und Athleten schwierig, eine Medaille zu holen.
In Paris verwenden Sie in der Werkstatt erstmals eine 3D-Druck-Technik. Was verändert sich dadurch in den Abläufen?
Bisher mussten wir Abdrücke mit Gips manuell anfertigen. Zum einen ist das für die Anwender sehr anstrengend. Zum anderen ist es auch für den Techniker oder die Technikerin nicht effizient. Die ganze Prozedur hat mindestens einen halben Tag gedauert. Dadurch ist natürlich eine Menge Arbeitskraft verloren gegangen. Durch die neue Technologie mit Scannern und 3D-Druckern können wir das Modell digital erstellen und parallel drucken lassen. Auch bestimmte Konstruktionen individueller Bauteile sind dadurch möglich. Das macht die Reparaturen insgesamt effizienter und flexibler.
Wenden wir den Blick in die Zukunft. Welche Fortschritte wird die Technik im Bereich der Prothetik noch machen?
Ein Blick in die Glaskugel ist immer schwierig. Im Allgemeinen wird die Technik wahrscheinlich noch intuitiver werden. Auch der 3D-Druck wird, denke ich, in der Zukunft noch eine größere Rolle spielen. Möglicherweise kann die Produktion einer gesamten Prothese in diesem Verfahren gestaltet werden. Künstliche Intelligenz wird außerdem wohl viele Abläufe automatisieren.
Haben Sie wegen dieser möglichen technischen Neuerungen Angst um ihren Job?
Gerade bei Projekten wie der Servicewerkstatt bei den Paralympischen Spielen, gehe ich nicht davon aus, dass der Orthopädietechniker in der nächsten Zeit durch Künstliche Intelligenz ersetzt wird. Viele Vorgänge lassen sich automatisieren, aber die kaputte Schraube muss auch in zehn Jahren noch ausgetauscht werden. Gerade im Sport haben wir es nicht mit Hightech-Prothesen zu tun. Diese sind bei Wettkämpfen nicht zugelassen. Alle Prothesen müssen vom Anwender oder der Anwenderin selbst gesteuert werden. Das schließt viele der neueren Technologien aus.
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