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Rocco Reitz kommt seit dem Beginn der Saison gar nicht mehr raus aus dem Lachen.

© imago/Schüler/IMAGO/Marc Schueler

Plötzlich EM-Kandidat: Die fast unmögliche Karriere des Rocco Reitz

Aus der Fankurve in die Bundesliga: Die Geschichte des Mittelfeldspielers von Borussia Mönchengladbach ist außergewöhnlich. Jetzt darf Rocco Reitz sogar von seinem Länderspieldebüt träumen.

Stand:

Toni Leistner kann wirklich nicht klagen über den jungen Mann, mit dem er in seiner Zeit in Belgien unter einem Dach gewohnt hat. Wilde Partys in der Wohnung über ihm sind dem Kapitän des Berliner Fußball-Zweitligisten Hertha BSC jedenfalls nicht erinnerlich. Im Gegenteil.

Der junge Mann, der mit ihm in St. Truiden gespielt hat, ist Leistner eher durch großen Eifer aufgefallen. „Fokussiert“ und „klar im Kopf“ hat Herthas Verteidiger seinen Landsmann erlebt, der von Borussia Mönchengladbach an den belgischen Erstligisten ausgeliehen war. Er sei „ein sehr hungriges junges Talent, das auf jeden Fall viel Willen mitbringt“.

Dieser Hunger hat Rocco Reitz weit gebracht: vor Kurzem sogar bis in die deutsche Nationalmannschaft, die sich in Herzogenaurach auf die Europameisterschaft im eigenen Land vorbereitet. „Dass nach dieser Saison noch mal was oben draufkommt, das hätte ich nicht gedacht“, sagt Reitz, der in der vergangenen Woche seinen 22. Geburtstag gefeiert hat. „Dass das noch getoppt wird – Weltklasse.“

Die Berufung in den Kreis der Nationalspieler war der nächste extrem unwahrscheinliche Schritt in einer eigentlich fast unmöglichen Karriere.

Er besitzt die Raffinesse eines südamerikanischen Spielmachers aus den späten 1990er-Jahren, aber in Wirklichkeit ist er ein umtriebiger Typ, zuverlässiger und fleißiger als erwartet.

„The Athletic“ über Rocco Reitz

Streng genommen ist Reitz natürlich noch kein richtiger Nationalspieler, sondern nur ein Nationalspieler mit Sternchen. Er ist von Julian Nagelsmann – wie der Mainzer Brajan Gruda – als eine Art Sparringspartner eingeladen worden, weil dem Bundestrainer zu Beginn der EM-Vorbereitung einige Spieler für ein angemessenes Training fehlten.

Die Chancen, noch in den Kader für das Turnier zu rutschen, sind realistisch betrachtet weniger als gering. Aber, so hat es Nagelsmann gesagt: „Das ist schon ein kleines Zeichen: Das sollte man nutzen und alles reinlegen.“

Der Mainzer Gruda, gerade 20 geworden, war eine der Entdeckungen der abgelaufenen Saison und tatsächlich schon als möglicher EM-Teilnehmer gehandelt worden: „Man sieht, dass er etwas Besonderes hat“, sagte Thomas Müller dieser Tage über den Offensivspieler.

Gut in der Balleroberung. Rocco Reitz (2. von rechts) hat in dieser Kategorie einen besseren Wert als 97 Prozent der Mittelfeldspieler in den fünf europäischen Topligen.

© IMAGO/eu-images/imago

Bei Rocco Reitz, im zentralen Mittelfeld zuhause, liegen die Dinge etwas anders. Auch um ihn hat es einen großen Hype gegeben, aber das liegt vor allem in seiner Biografie begründet. Reitz hat es in der vergangenen Saison zum Stammspieler bei dem Verein gebracht, dem er – buchstäblich – seit seiner Geburt angehört. Früher stand er im Borussia-Park in der Kurve, er war Einlaufkind und hat seit der U9 im Nachwuchs von Borussia Mönchengladbach gespielt.

In einer bleiernen Spielzeit der Gladbacher war Reitz einer der wenigen Lichtblicke. Entsprechend viel Aufmerksamkeit ist ihm zuteilgeworden. Das Magazin „11 Freunde“ machte ihn Anfang des Jahres zum Coverboy, und „The Athletic“, das Sportportal der „New York Times“, widmete ihm gleich zwei Geschichten.

In einer hieß es über ihn: „Er ist 1,74 Meter groß und besitzt die Raffinesse eines südamerikanischen Spielmachers aus den späten 1990er-Jahren, aber in Wirklichkeit ist er ein umtriebiger Typ, zuverlässiger und fleißiger als erwartet.“

Bereits mit 18, im Oktober 2020, feierte Reitz sein Debüt in der Bundesliga. „Er bringt ein Paket mit, das richtig gut ist“, sagte sein damaliger Trainer Marco Rose über ihn. Und trotzdem kam Reitz in den drei Jahren danach nur zu zwei weiteren Bundesligaeinsätzen, stand dabei ganze vier Minuten auf dem Feld.

In St. Truiden hat Rocco Reitz (unten, 5. von links) mit Toni Leistner (oben, 5. von links), dem aktuellen Kapitän von Hertha BSC, zusammengespielt.

© imago images/Dimitri Charles

Insgesamt anderthalb Spielzeiten war der Mittelfeldspieler von Mönchengladbach nach St. Truiden verliehen. Im ersten Jahr, so erinnert sich Herthas Kapitän Leistner, habe Reitz extreme Probleme gehabt, sich im Männerfußball zu behaupten. „Da war er auch nicht in der körperlich fittesten Verfassung.“ Der Aufstieg in den Profifußball, so hat es Reitz selbst erzählt, war ihm wohl ein wenig zu Kopf gestiegen. Aber das ist inzwischen anders.

Die Zeit in Belgien unter Trainer Bernd Hollerbach, dem früheren Assistenten von Felix Magath, war in jeder Hinsicht eine gute Schule für ihn. „Was er da noch gelernt hat, war: richtig um den Ball zu kämpfen. Also das, was die Fans am meisten feiern“, sagt Leistner.

In seiner ersten Saison als Stammspieler bei Borussia Mönchengladbach hatte Reitz mehr Balleroberungen als 97 Prozent der Mittelfeldspieler in Europas Topligen. Er erzielte sechs Tore, war damit der drittbeste Schütze seiner Mannschaft und stand als einziger Spieler seines Teams und als einer von nur sieben Feldspielern der gesamten Liga in allen 34 Spielen auf dem Platz. „Das war schon Wahnsinn“, sagt er.

Seine Passquote ist mäßig

Und dennoch ist sein Weg in die Nationalmannschaft nicht zwingend vorgezeichnet. Viele halten Reitz für nicht so gut, wie er in den vergangenen Monaten gemacht wurde. Mit einer Top-Geschwindigkeit von 33,77 km/h liegt er in der Bundesliga auf Platz 133, und seine Passquote (75 Prozent) ist eher mäßig. 86 Prozent der Mittelfeldspieler in Europas Topligen sind in dieser Kategorie besser als er.

Doch Reitz hat offenbar etwas, das schwer zu greifen ist. Als die neue U-21-Nationalmannnschaft zu Beginn der abgelaufenen Saison erstmals zusammenkam, war der Gladbacher nicht einmal nominiert. Bei den nächsten Länderspielen saß er zunächst auf der Bank, wurde eingewechselt, verschuldete gegen Estland gleich ein Gegentor und traf danach selbst zweimal. Seitdem ist Reitz auch bei U-21-Nationaltrainer Antonio di Salvo Stammspieler.

Eigentlich wollte Julian Nagelsmann Reitz und Gruda schon nach einer Woche in den Urlaub entlassen. Dann aber hat er entschieden, dass beide die komplette Vorbereitung über beim Team bleiben, inklusive dem letzten Test vor der EM an diesem Freitag gegen Griechenland (20.45 Uhr, live bei RTL).

Brajan Gruda hat das Quartier der Nationalmannschaft am Mittwoch wegen einer Muskelverletzung verlassen. Für eine überraschende EM-Nominierung kommt er damit nicht mehr infrage. Dass stattdessen Rocco Reitz bei der Europameisterschaft dabei sein wird, „das denke ich nicht“, sagt Reitz selbst.

Das Thema könnte wohl nur dann eines werden, wenn sich aus dem ohnehin noch zu großen Aufgebot jemand verletzen sollte. „Ich bin mir meiner Rolle schon bewusst und mache mir nicht allzu großen Hoffnungen“, sagt Reitz. „Ich versuche meine Marke zu hinterlassen. Man weiß ja nie, wozu es am Ende gut ist.“

Vielleicht für einen kurzen Einsatz an diesem Freitag gegen Griechenland, im Mönchengladbacher Borussia-Park, seinem Wohnzimmer. Auch das ist nicht sehr wahrscheinlich, weil der Bundestrainer wohl im finalen Test die Spieler sehen will, mit denen er für die EM plant. „Ich habe noch nichts gehört, aber auch noch nicht nachgefragt“, sagt Reitz. „Wenn es nicht passiert, habe ich kein Problem damit – weil ich so was von happy bin mit dem, was bisher passiert ist.“

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