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Wüstenrallye: Rallye Dakar und die Macht der Unvernunft

"Wenn das Leben langweilig wird, riskiere es!" Das ist das Motto der Rallye Dakar. 60 Tote forderte das Wüstenspektakel schon – mehr als 400 Besessene lassen sich davon nicht beirren.

Von Christian Hönicke

Der Wüstenwind schleudert unaufhaltsam Staub an die Zeltwand. Nebenan kreischt eine Flex, ein paar Meter weiter hämmert jemand leidenschaftlich auf Metall herum. Es ist drei Uhr morgens in der Atacama-Wüste, und wer bisher wegen des Lärms nicht einschlafen konnte, braucht es jetzt auch nicht mehr zu versuchen.

Die ersten Motorräder heulen auf, bereit zur Fahrt ins Ungewisse. Das Fauchen durchschneidet die Zelte und hallt vorbei an der nordchilenischen Küstenstadt Antofagasta durch die braune Einöde bis an den Fuß der Anden. Wen man auch fragt im Biwak, dem verstaubten Zeltlager der Wüstenrallye Dakar, alle schütteln den Kopf und sagen: „Die Motorradfahrer, die sind wirklich crazy.“

Sie fahren mitten in der Nacht als Erste los, humpeln abends abgekämpft zum Essenszelt und studieren dort den Plan für die nächste Etappe, während sie ihre Ration kalte Lasagne in sich hineinstopfen. Danach schrauben einige noch bis tief in die Nacht an ihren Maschinen herum, und mit etwas Glück bleiben vier Stunden Schlaf, manchmal nur eine. Ein paar haben es heute erst gar nicht bis ins Biwak geschafft und mussten in den Dünen vor Antofagasta nächtigen. Aber die 407 Fahrer, die sich vor zwei Wochen in Buenos Aires zum Start des berüchtigtsten Rennens der Welt eingefunden haben, um dort am Ende, nach fast 10 000 Kilometern, wieder anzukommen, sind sowieso keinen All-inclusive-Standard gewöhnt. „Man muss einfach ein bisschen verrückt sein“, sagt die Motorradpilotin Tina Meier. Die Hamburgerin muss es wissen, denn sie ist schon zum dritten Mal dabei.

Es sind Getriebene. Freiwillig zusammengepfercht in einem abgezäunten Wüstencamp, unter dem Motto des später verunglückten französischen Motorradfahrers und Dakar-Gründers Thierry Sabine: „Wenn das Leben langweilig wird, riskiere es!“

Der französische Veranstalter ASO bezeichnet die Dakar als „internationalen Nomaden-Wettbewerb“. Mehr noch ist es eine organisierte Reise in eine Zeit, in der die Ungewissheit noch ein ernst zu nehmender Gegner war. Während die Zuschauer die ganze Erde per Handy in Sekundenbruchteilen erkunden können, dürfen die Piloten keine technischen Hilfsmittel zur Orientierung benutzen.

Die Rallye Dakar ist eine Parabel auf das Dilemma des modernen Menschen, der sich verirrt hat zwischen Fortschrittsglaube und Rückbesinnung auf die Natur, zwischen dem Wunsch nach totaler Sicherheit und der Sehnsucht nach dem großen Abenteuer. Die meisten im Biwak gehen normalerweise einer vernünftigen Erwerbstätigkeit nach. Einmal im Jahr aber bauen sie dieses Ferienlager für Erwachsene auf, um die Lust am Unvernünftigsein gemeinsam zu zelebrieren. Die berüchtigte Rallye ist der Gegenentwurf zu Bio-Markt und Yoga, zu Tempo 30 und Rauchverbot.

Da ist zum Beispiel der blonde, dauerlächelnde Guerlain Chicherit. Der 32-Jährige hat sich früher als Extremskifahrer die Berge hinuntergestürzt und rast nun im Mini des deutschen X-Raid-Teams durch den Pulversand. Dem Franzosen vergeht sein Lächeln, als er seinen Wagen bei einer Testfahrt am Ruhetag der Dakar zerlegt, in Flipflops, unangeschnallt und ohne Helm – macht zusammen Gehirnerschütterung. Die meisten hier sind aber eher Anfang bis Mitte 40, europäisch und männlich mit Bauchansatz.

Der Weg führt die Piloten zunächst ein paar Stunden entlang der kargen chilenischen Küste auf der Panamericana, die zerfetzte Reifen säumen, geschmückte Kreuze und Schilder mit der Aufschrift „Respektiert die Umwelt!“. Nur gut die Hälfte der 13 Etappen wird querfeldein auf Zeit gefahren, der Rest ist Transit auf öffentlichen Straßen. Die Verkehrsregeln sind dabei außer Kraft gesetzt, die Polizei spielt Autogrammjäger und Security und geleitet den Tross sicher über rote Ampeln zum Start der Etappe.

Kurz vor dem weißen Startzelt steht ein gähnender Mann mit Dreitagebart neben seinem Auto am Straßenrand. Es ist Nasser Al-Attiyah, der VW-Pilot, Typ Millionärssohn mit Draufgängermentalität. Der 40-Jährige aus der katarischen Königsfamilie gilt als einer der furchtlosesten Piloten im Feld, sein Credo lautet: „Mal sehen, wann Allah mich ruft.“ Al-Attiyah soll dem großen Favoriten Volkswagen den dritten Dakar-Sieg in Folge einfahren.

Schon früh entdeckten Autofirmen den Offroad-Marathon als Werbebühne für ihre klobigen Geländewagen. VW brachte als einziges echtes Werksteam vier Autos an den Start, die pro Stück eine Million Euro wert sind und nichts mit dem Serienwagen Touareg zu tun haben, unter dessen Namen sie fahren. Die Fernsehberichte über die VW-Erfolge bei der Dakar freuen den Motorsportchef Kris Nissen. Und das ambivalente Image der Rallye? „Wir können nicht bestreiten, dass der Offroad-Sport im Vergleich zu anderen gefährlich ist“, gibt Nissen zu, „der größten Gefahr setzen sich die Motorradfahrer aus.“ Doch dann verdrängt er den Gedanken schnell.

Auch auf der achten Etappe nach Copiapo gehen die Zweiräder wie immer als erste der vier Kategorien ins Rennen. Sie jagen links ab vom Highway und verschwinden sandumtost hinter den Hügeln der Atacama. Dort malen sie ein Geflecht aus Reifenspuren, bis es der nächste Sandsturm wieder der Vergessenheit anheimfallen lässt.

„Noch 40 Minuten bis zum Start“, ruft Timo Gottschalk und markiert weiter die potenziell gefährlichen Stellen mit roten und grünen Filzstiften auf der Landkarte. Al-Attiyah nickt geistesabwesend in Richtung seines Berliner Kopiloten und Navigators, er muss erst einmal richtig wach werden. „Wenn ich so früh aufstehen muss, schlafe ich auf der Anfahrt zum Start fast ein.“ Dabei hat Al-Attiyah es schon ziemlich komfortabel – ein eigener Masseur und ein Hotelbett warten nach jeder Etappe auf ihn. Andere leben weit entbehrungsreicher.

Etwa 30 Motorradpiloten meistern die Rallye ganz allein. Sie konnten nur das Minimalbudget von 20 000 Euro zusammenkratzen, für das man sich weder Mechaniker noch Masseur leisten kann. Ein Auto an den Start zu bringen kostet mindestens 100 000 Euro, und wenn man bei den Motorrädern halbwegs vorn mitfahren will wie Tina Meier, sind etwa 80 000 fällig. Die Frau mit den schwarzen Wuschelhaaren vertritt den Typ Normalbürger mit Spleen. Also die Art Mensch, die das stille Leid im Büro mit Marathon oder Extrembergsteigen lindert. Das ganze Jahr arbeitet die 38-Jährige im Finanzamt und mit diversen Nebenjobs darauf hin, sich dieses Martyrium leisten zu können.

Einen Teil von Meiers Abenteuerreise sponsert der Hamburger Softwareunternehmer Thomas Schünemann. Sein HS-Rallye-Team umfasst außerdem einen furchteinflößenden Renn-Lkw mit fast 1000 PS und ein Auto der Buggy-Klasse. In dem fährt Schünemann als Kopilot gleich selbst mit. Sein Lenker ist Matthias Kahle, der schon siebenmal Deutscher Rallyemeister wurde. 2009 gewannen die beiden die Buggy-Klasse, der eher schüchtern wirkende Kahle umschreibt seine Taktik so: „Ich fahre eher defensiv. Ich hatte seit 13 Jahren keinen Unfall.“ Während er das sagt, holt er ein Minifläschchen Rotwein aus der Hosentasche und zündet sich eine Zigarette an, „ich bin ja nur offiziell Sportler“. Und dann erzählt der 41-Jährige: „Ich find’s hier schöner. In Afrika war die Strecke anspruchsvoller, aber es gab kaum Zuspruch. Hier jubeln dir die Leute zu.“

Wegen Terrordrohungen von Al Qaida fiel die Rallye 2008 aus und kehrte ihrem Stammkontinent mit der namensgebenden senegalesischen Hauptstadt den Rücken. Während die Dakar in Afrika den Ruf der Kolonialherrenbarbarei nie ganz losgeworden ist, haben Chile und Argentinien das Wüstenspektakel als Touristenmagnet begeistert aufgenommen. In Abstimmung mit den Umweltministerien, wie die ASO erklärt, aber um die reichlich vorhandene Natur scheint sich hier sowieso niemand ernstlich zu sorgen. An der Tankstelle in Copiapo verteilt zwar eine einsame Umweltaktivistin Protestzettel. Ihr Zorn richtet sich jedoch nicht gegen das Rennen, sondern gegen das neue Kraftwerk, das hier ganz in der Nähe entstehen soll.

Für die stinkenden Rennschleudern stehen dagegen ganze Städte hysterisch Spalier. Die Fahrer werden angehimmelt wie Popstars. Teenagermädchen halten Schilder mit „Stop! Kiss!“ in die Höhe oder kommen ohne Ankündigung gleich zur Sache. Tausende umkreisen jeden Abend das Biwak, ein paar Glückliche dürfen hinein.

Auch am Zielhang in Copiapo warten die Fans schon seit Stunden in der Sonne auf ihre Helden. Einige pflügen mit ihren Geländewagen oder Enduros zum Zeitvertreib selbst durch die Dünen. Das ist nicht ungefährlich, doch Absperrungen gibt es nicht. So stellen sich manche Fanatiker den Renngeschossen regelrecht in den Weg und springen erst in letzter Sekunde zur Seite. Regelmäßig bezahlen zu Wagemutige dafür mit ihrem Leben.

Rund 60 Opfer hat die Dakar seit 1978 gefordert – kein Wunder, dass die Blutgruppen der Insassen gut sichtbar an die Gefährte gepinselt werden. Auch dieses Jahr fordert das große Wagnis seinen Tribut: Der Fahrer eines Kleinlasters stirbt nach einem Zusammenstoß mit einem Rallyewagen auf einer Landstraße. Es gab schon viele Versuche, die Dakar verbieten zu lassen. Die Macht der Unvernunft war jedes Mal stärker.

Als ein Kamerahelikopter über die Düne flattert, werden die Leute in Copiapo nervös. Die Fahrer werden bald kommen. Unter großem Gehupe knattern ein paar Minuten später die ersten Motorradpiloten ins Tal. Kurz danach peitscht Nasser Al-Attiyah als erster Autofahrer durchs Ziel und übernimmt damit die Gesamtführung.

Von Copiapo geht es zurück über die Anden Richtung Argentinien, wo es wieder bunter wird. Die rasende Finanzbeamtin Tina Meier muss kurz hinter der Grenze aufgeben. Crash, Bronchitis, Höhenkrankheit, Durchfall, das alles hat sie weggesteckt, doch eine Harnleiterentzündung beendet ihren Traum, Buenos Aires zu erreichen.

Nasser Al-Attiyah dagegen träumt weiter. Er wird per Videoschaltung mit der argentinischen Präsidentin Cristina de Kirchner plaudern, die den Fahrern attestiert: „Sie leisten Großes im Rahmen eines wunderbaren Rennens.“ Dann wird er weiterjagen, durch trockene Flusscanyons und Salzwüsten in der Pampa, über Schotterpisten an Weinhängen entlang, immer weiter Richtung Buenos Aires, das er wohl als Erster erreichen wird. Seine Jagd aber, die wird auch dann nicht zu Ende sein. Er wird wieder herkommen ins Wüstencamp, wie alle, die es überstanden haben und es sich leisten können.

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