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Halt gesucht. Deschamps (Mitte) und Löw am 13. November 2015.

© Imago/Ulmer

Fußball-EM 2016 in Frankreich: Richtige Vorfreude mag sich nicht einstellen

Die EM kommt in ein verunsichertes Land. Der Fußball wird in Frankreich kaum noch einmal so viel bewirken können wie bei der WM 1998.

Da ist dieses Foto mit Didier Deschamps und Joachim Löw. Deschamps, der sonst so drahtig daherkommende und vor Energie nur so sprühende Trainer der französischen Fußball-Nationalmannschaft, klammert sich an seinen deutschen Kollegen, er legt den Kopf an Löws Brust, die Augen sind vor Schreck geweitet, und sein früh ergrautes Haar wirkt so schlohweiß wie das eines Greises.

An diesem 13. November 2015 ist Deschamps, 47, um Jahre gealtert. Nach jenem Testspiel, das die Franzosen 2:0 gewonnen hatten, aber wer erinnert sich heute noch daran, wer die Tore geschossen hat? Es war der Tag, an dem der Terror nach Paris und über den Fußball kam. Die Detonation der Bomben war bis auf das Spielfeld im Stade de France zu hören.

Beide Trainer waren schon in der Halbzeitpause informiert worden, „aber wir waren so auf das Spiel fokussiert, dass wir es gar nicht realisiert haben“, hat Deschamps später erzählt. „Erst am Ende haben wir begriffen, dass eine Katastrophe passiert ist.“ Die Wucht des Unfassbaren traf ihn so hart, dass er Löws Beistand brauchte.

Was am 13. November passiert ist, legt sich wie ein grauer Schleier über die Europameisterschaft, die in diesem Sommer in Frankreich ausgespielt wird. Niemand denkt ernsthaft an eine Absage des Turniers. Aber richtige Vorfreude auf ein Spektakel mit 24 Nationen mag sich auch nicht einstellen. Die mörderischen Attentate von Paris haben den Fußball befreit von der Illusion, er finde in einem virtuellen Raum fern der dramatischen Probleme seiner Zeit statt. Sie treffen ein schwer verunsichertes Land, eine zerrissene Gesellschaft.

Der Fußball hat Frankreich schon einmal den Weg gewiesen. Das war 1998, als die Franzosen nicht nur Europa zu Gast hatten, sondern die ganze Welt. Bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land spiegelte die französische Nationalmannschaft sämtliche Facetten des Landes. Die Vorfahren der Spieler kamen aus den früheren französischen Übersee-Gebieten, aus Schwarz- und Nordafrika, aus der Karibik, Südamerika oder Ozeanien. Ihr Anführer war Didier Deschamps, der Baske aus Bayonne.

Jean-Marie Le Pen, damals Anführer des rechtsradikalen „Front National“ beklagte in unschöner Regelmäßigkeit, „dass zu viele Ausländer“ im Team seien, wozu der Mannschaftskapitän Deschamps sagte, dass er lieber gar nichts sage, „alles andere würde diesem Herrn mehr Bedeutung geben, als er verdient“.

Die Mannschaft sprach mit Taten. Am Tag nach dem 3:0-Finalsieg über Brasilien feierte ganz Paris seine bunten Helden. Hunderttausende kamen aus den Banlieues, den vorrangig von Zuwandererfamilien bewohnten Vororten ins Zentrum und drängten sich bei der Siegesparade auf den Champs-Élysées. Die linksliberale Tageszeitung „Libération“ feierte „einen tollen Nasenstüber für den Front National. Diese Nationalmannschaft kann man ohne Chauvinismus bewundern.“ Die Grande Nation fühlte sich endlich mal wieder als große Nation.

Das Frankreich von 2016 ist ein anderes als das von 1998

Aber das Frankreich von 2016 ist ein anderes als das von 1998. Es ist ein Frankreich, in dem es keine Chancengleichheit gibt, keinen Weg aus den Banlieues in die bürgerliche Gesellschaft. In den Problemvierteln von Paris, Marseille oder Lyon stagniert die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau bei bis zu 30 Prozent. Die Politik findet keinen Zugang zu den Parallelgesellschaften.

Vor elf Jahren brannten die Banlieues, und Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, fiel dazu nichts anderes ein als die Androhung: „Ich werde diese Viertel ab sofort mit dem Kärcher säubern!“ Gerade erst hat Marine Le Pen, die Tochter des greisen Jean-Marie, den Front National bei den Regionalwahlen zu zweistelligen Ergebnissen geführt. Nach den Anschlägen von Paris klafft die Nation weiter auseinander denn je.

Niemand mag daran glauben, dass die Europameisterschaft im kommenden Sommer noch einmal die integrative Kraft der Weltmeisterschaft von 1998 heraufbeschwören kann. Michel Platini, als Präsident der Uefa so etwas wie der Vater des Turniers, ist gerade von der Ethikkommission des Weltverbandes Fifa für acht Jahre gesperrt worden. Es stand schon einmal besser um den moralischen Anspruch des Profifußballs.

Und was die Nationalmannschaft betrifft: Zwar stammen noch immer viele Spieler aus Familien, die aus früheren Kolonien eingewandert sind. Aber die Stimmung hat sich geändert. In seinem Buch „Racaille Football Club“ schreibt der Journalist Daniel Riolo 80 Prozent aller französischen Fußballprofis eine Jugend in den Banlieues zu. Die Familie von Karim Benzema kam in den 50er Jahren aus Algerien in die Trabantensiedlung Bron Terraillon bei Lyon. „Wenn ich ein Tor schieße, bin ich Franzose“, sagt der Stürmer von Real Madrid, „aber wenn ich keins schieße oder wenn es Probleme gibt, bin ich Araber.“

Im Moment gibt es da in der Tat ein Problem mit Benzema. Es geht dabei um die Erpressung des Nationalmannschaftskollegen Mathieu Valbuena wegen eines kompromittierenden Sexfilmchens, Benzema ist als Mittäter angeklagt. Auf einem Telefonmitschnitt ist zu hören, wie er zu Valbuena sagt: „Pass auf, Alter, nichts mit irgendwelchen Vermittlern, Anwälten, Freunden, Beratern oder der Polizei. Wenn das Video weg soll, wird dich mein Freund in Lyon besuchen.“

Es steht nicht gut um Karim Benzema – und damit auch nicht um die Nationalmannschaft. Auf Weisung des französischen Verbandes darf Didier Deschamps seinen besten Stürmer vorerst nicht mehr berufen, und es wird zur Europameisterschaft wohl auch keinen Weg zurück geben. „Im Augenblick ist das nicht möglich“, sagt Deschamps und denkt wahrscheinlich ein bisschen wehmütig an die WM-Tage von 1998.

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