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Sport: Rot ist das Glück

Warum der FC Liverpool die Champions League gewonnen hat, wird wohl immer unerklärlich bleiben

Die Männer in den neongelben Westen schienen verloren. Die rote Wand vor ihnen hatte sich blitzschnell geteilt, und nun stürmten, wie von einem Orkan nach vorn gepeitscht, Menschen mit weit aufgerissenen Mündern auf sie zu. Es gröhlte und schrie, beißender Rauch stieg auf, Fahnen wurden bedrohlich wie Speerspitzen in den Himmel gereckt. 0:25 Uhr Istanbuler Ortszeit zeigte die Anzeigetafel im Atatürk-Olympiastadion. Liverpools Fans, entfesselt und freudetrunken, schickten sich an, die Ordnersperre zu durchbrechen. 50 Meter hinter den Linien der Polizei stieß Kapitän Steven Gerrard die soeben gewonnene Trophäe nach oben. Nur die letzte Glückseligkeit hielt den wildesten Liverpooler Anhang wohl davon ab, das Feld zu stürmen. Die Wand schloss sich wieder, und fortan tönte es nur noch laut und freudig aus ihr heraus: „You’ll never walk alone.“ Wie denn auch, wenn das eigene Team die Champions League sensationell gewinnt, 3:2 (0:3, 3:3) im Elfmeterschießen gegen den Favoriten AC Mailand – nach einem 0:3-Rückstand in der ersten Halbzeit.

Es gab viele Erklärungsversuche, wie es zu diesem Triumph kommen konnte. Aber keiner war wohl ausreichend genug, das Unfassbare zu begreifen. Vielleicht nähert man sich der Wahrheit an mit der 118. Minute. Es steht 3:3. Der AC Mailand greift an, Serginho flankt, scharf, präzise. Andrej Schewtschenko springt punktgenau, trifft den Ball optimal mit dem Kopf, aber Torhüter Jerzy Dudek hält. Der abprallende Ball legt sich dem Ukrainer vor die Füße, aber er schießt Dudek an. Kann man danach noch ein Finale gewinnen? Im Kopf hatte Schewtschenko seine Antwort gegeben: Sie hieß Nein. Als er später als fünfter Elfmeterschütze antritt, zeigen die Kameras seine Nervosität. Dudek hält, das Spiel ist aus. Zuvor schon hatte Liverpools Torwart, auf der Linie aufreizend hin und her zappelnd, gegen Andrea Pirlo pariert, und Serginho hatte drüber geschossen.

160 Minuten zuvor hatte ein Spiel begonnen, das allein für Paolo Maldini, den Kapitän des AC Mailand, hätte bestimmt sein können. Es war seine siebte Finalteilnahme im Europapokal, er hätte zum fünften Mal gewinnen können. Und er schoss nach 51 Sekunden das 1:0. Fortan schien die erste Halbzeit vom Schicksal auserkoren, die Engländer zu demütigen. Sie zu reizen? Als Luis Garcia sich im Mailänder Strafraum mit Alessandro Nesta duelliert, spielt dieser eindeutig den Ball mit der Hand. Mailand aber kontert, weil Schiedsrichter Gonzalez weiterspielen lässt. Diesmal ist Schewtschenko auf der rechten Seite, und Hernando Crespo verwandelt seine Flanke in der Mitte. Mailand spielt kontrolliert, technisch hochklassig, präzise im Abspiel. Und sicher in der Chancenauswertung. Nach Crespos zweitem Tor scheint Liverpool besiegt zu sein.

Mailands Trainer Carlo Ancelotti wird später sagen, er habe nicht geglaubt, dass das Spiel schon gewonnen sei. Aber das ist natürlich gelogen. Ancelotti hätte nach Madrids Vincente del Bosque der zweite Trainer werden können, der mit demselben Verein zweimal die Champions League gewinnt. 2003 hatte er in Manchester mit Milan Juventus Turin besiegt. Im Elfmeterschießen. Die erste Halbzeit von Istanbul untermauerte eindrucksvoll Ancelottis Auffassung, dass seine Mannschaft nicht „zum Verteidigen, sondern zum Attackieren geschaffen ist“. Am Ende aber musste Ancelotti schwer arbeiten, um in seinem Gesicht die tiefe Trauer zu verbergen.

Liverpools Trainer Rafael Benitez hatte schon nach zehn Minuten in der äußersten Ecke seines großen, grünen Trainerquadrats gestanden, dicht am Spielfeld, und gestikuliert. In 120 Minuten setzt er sich kaum hin. Der Sieg, das größte Geschenk seines Lebens? „Nun ja“, sagt er entschuldigend, „wenn man drei Kinder hat und eine wundervolle Frau …“ Benitez bleibt bescheiden. In der Halbzeit sei es für sein Team nur um eines gegangen: zu begreifen, dass Liverpool vor seinen Fans nicht untergeht.

Und so taktierte Benitez ein wenig herum, brachte Vladimir Smicer für mehr Offensive, Dietmar Hamann für mehr Ordnung und ließ später überraschend Gerrard auf rechts gegen Serginho verteidigen. Das Glück schenkte Liverpool zudem sechs Minuten lang seine ganze Aufmerksamkeit. Drei Tore aus dem Nichts feuerten Liverpools Fans derart an, so dass ab der 60. Minute nur noch ihre Gesänge zu hören waren. Sechs Minuten wie 51 Sekunden: Flanke Riise, Kopfball Gerrard: 1:3 (54.), Weitschuss Smicer: 2:3 (56.), Elfmeter Xabi Alonso, nach Foul von Gennaro Gattuso an Gerrard, Dida hält, aber Alonso drischt den Abpraller unter die Latte: 3:3 (60.).

Wie hatte Benitez gesagt: „Vielleicht weiß Mailand nicht, wie hungrig wir sind.“

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