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„Die schlimmste Erfahrung habe ich in Hannover gemacht“: Warum dieser Mann an deutschen Fußballstadien seine Gesundheit riskiert
Ihm wurde ein Zahn ausgeschlagen und mit dem Leben gedroht. Doch Thomas Melchior will weitermachen. Was bezweckt er?
Stand:
Herr Melchior, kennen Sie den dritten Teil der Actionfilm-Reihe „Stirb Langsam“?
Ich kenne ihn und weiß, auf welche Szene Sie anspielen.
Bruce Willis läuft durch die Straßen Harlems mit einem Schild, auf dem steht: „I Hate N…“.
Genau diese Szene hat mich inspiriert. Zuerst hatte ich mir überlegt, im Clownskostüm durch Fußgängerzonen zu laufen und ein Schild mit der Aufschrift „Wette verloren“ in der Hand zu halten. Aber den Gedanken habe ich verworfen. Dann fiel mir auch die Szene in „Stirb Langsam“ ein und, klar, Aufmerksamkeit ist eine sehr hohe Währung und die brauchte ich.
So kamen Sie darauf, rund um Fußballstadien die dort meist verhassten Trikots zu tragen.
Und dabei ein Schild in der Hand zu halten, auf dem steht: „Wette verloren“.
Der Zweck dieser Aktion: Sie wollen auf die Gefahren von Sportwetten aufmerksam machen.
Genauso ist es. Die Aktion hat ja eine Doppeldeutigkeit. Sie bedeutet, dass ich Wetten verloren habe und gleichzeitig soll sie veranschaulichen, welche Wetteinsätze sportwettensüchtige Menschen abschließen.
Wetten auf Leib und Leben.
Das kann man schon so sagen, ja.
Wie viel haben Sie verloren?
Rund 800.000 Euro. Ich bin bis heute mit einem sechsstelligen Betrag verschuldet und will allen, denen ich noch Geld schulde, das Geld wieder zurückgeben. Aber das Geld ist ja nur eine Sache, die ich durch Sportwetten verloren habe.
Was noch?
Zeit, Lebensqualität. Es war ein Leben vorm Laptop. Alles habe ich den Sportwetten untergeordnet, mein Job, meine Freunde – war alles nebensächlich.
Würden Sie sagen, dass Sie als Charakter besonders suchtanfällig waren?
Überhaupt nicht. Ich war an der Schwelle zum Leistungssport. Ich habe Zehnkampf gemacht, dann Fußball ambitioniert gespielt, habe nie Alkohol getrunken, geraucht oder irgendwelche Drogen genommen. Ich habe nicht mal – wie so viele Bekannte – irgendwelche Spiele am Computer gezockt.
Es war – im Nachhinein betrachtet – klar, dass ich irgendwann massiv verlieren würde.
Thomas Melchior, Aktivist gegen Sportwetten
Wie hat es angefangen?
Mit dem Champions-League-Spiel Bayern München gegen Rapid Wien am 22. November 2005.
Wie viel haben Sie gesetzt?
Zehn Euro, herausbekommen habe ich elf. Klingt mickrig. Aber ich war zu der Zeit Bankkaufmann und meine Kunden haben sich gefreut, wenn ich ihnen drei, vier oder fünf Prozent Rendite versprechen konnte. Daher dachte ich: Ich mache direkt bei meiner ersten Wette zehn Prozent Rendite, das klingt vielversprechend.
Und gefangen waren Sie in der Sportwettensucht.
Richtig, zumal die Werbung überall suggerierte, dass Sportwetten so schlecht ja nicht sein können. Also steigerte ich meine Einsätze. Aus zehn Euro wurden hundert, aus hundert Euro tausend.
Es muss auch mal gut gelaufen sein, oder?
Die Phasen, in denen es gut lief, gab es. Allerdings war ich komplett süchtig. Es gab kein Zurück und es war – im Nachhinein betrachtet – klar, dass ich irgendwann massiv verlieren würde. Interessant war auch das Verhalten des Wettanbieters, den ich damals nutzte.
Inwiefern?
Als es gut lief, wurde ich von ihm limitiert. Ich durfte also nicht mehr so viel setzen, weil ich erfolgreich und somit eine Gefahr für den Wettanbieter war.
Und als es nicht mehr gut lief?
Stieg ich zum Premiumkunden auf, war ein sogenannter VIP-Kunde mit einer eigenen Betreuerin. Nun war ich ein Glücksfall für den Anbieter.
Perfide.
Aber aus der Perspektive des Anbieters logisch. Sportwettenanbieter leben von der Sucht ihrer Kunden. Und sie nutzen die Emotionalität des Fußballs und des Sports im Allgemeinen für ihre Zwecke. Das macht viele Sportfans so anfällig. Das Schlimme ist, dass hierzulande so offensiv dafür geworben werden darf. Deutsche Fußball Liga, Deutscher Fußball-Bund und die Sportvereine tun nichts dagegen, sie wären gefordert.
Sie alle verdienen mit.
So ist es. Die Politik wäre gefordert. Es passiert zu wenig. Ich möchte mit meinen Aktionen den Wettanbietern Geld wegnehmen. Aber das reicht natürlich nicht.
Sie riskieren viel, jüngst ist Ihnen in Darmstadt ein Zahn ausgeschlagen worden.
Ich hatte das für Darmstadt-Fans verhasste Trikot von Eintracht Frankfurt an. Es war Pech in Darmstadt, weil genau vor mir ein paar Männer waren, die mich erkannt hatten und nur darauf gewartet hatten, dass ich meine Jacke ausziehen würde, sodass das Eintracht-Trikot zum Vorschein kommt. Aber ich muss betonen: Dieser Fan steht nicht stellvertretend für die vielen Darmstadt-Fans, die größtenteils sehr aufgeschlossen für mein Anliegen waren.
Haben Sie Anzeige erstattet?
Nein. Ich habe anders reagiert. Ich habe mir ein Darmstadt-Trikot gekauft, das habe ich mit der Rückennummer 1 beflocken lassen und darüber steht geschrieben: „Zahn verloren.“
Hat der SV Darmstadt auf den Vorfall reagiert?
Nein. Einige waren wohl der Ansicht, dass ich provoziert hätte, auch weil ich „auf geht’s“ gerufen hätte. Man sieht aber in dem Video, dass man das kaum versteht. Und nach dieser Logik ist es legitim, auf die Fresse zu bekommen, wenn man ein Trikot in den falschen Farben trägt und „auf geht’s“ ruft. Das kann natürlich nicht sein.
Wie sieht es im Osten der Republik aus, in Dresden, Magdeburg oder Rostock? Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?
In Magdeburg, Rostock, Jena, Erfurt, Lok oder Chemie Leipzig ist meine Aktion aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Es ist traurig, aber es ist eine Sache, die dort einfach nicht geht. Aber ich würde auch nicht mit einem Offenbach-Trikot bei der Eintracht aufkreuzen. Und meine schlimmste Erfahrung habe ich in Hannover gemacht, als ich ein Trikot von Eintracht Braunschweig anhatte.
Was ist passiert?
Ich bin mit Bier überschüttet worden, ein Typ meinte, wenn ich mich nicht sofort verziehe, überlebe ich es nicht. Es war wirklich schlimm. Ich bin dann schnell gegangen. Fußball hat ein nicht zu leugnendes Gewaltproblem. Aber im Großen und Ganzen habe ich viel Zuspruch erfahren.
Wo zum Beispiel?
Fast überall. Ich erinnere mich zum Beispiel in Bielefeld, dort ging es am 12. September los mit meiner Aktion. Ich hatte an einem belebten Platz vorm Stadion ein Trikot vom Rivalen Preußen Münster an. Erst wurde es ruhig, dann ging ein Raunen durch die Menschen, schließlich applaudierten einige. Da wusste ich: Ich habe einen Nerv getroffen.
Wie war es auf Schalke, wo Sie ein BVB-Trikot trugen?
Großartig. Die haben dort alle sensationell reagiert. Genauso übrigens in Düsseldorf, wo ich ein Köln-Trikot anhatte. Von 95 Prozent der Menschen vor den Stadien bekomme ich Zuspruch. Mir macht es meistens großen Spaß, weil ich das Gefühl habe, dass die Menschen das Herz am rechten Fleck haben und sie sich in meine Situation hineinversetzen können.
Was planen Sie künftig?
Es geht weiter, ich möchte die Aktion ausbauen, auch international tätig werden. Mein Ziel ist, dass keine Sportwettenwerbung mehr gemacht wird. Außerdem halte ich Vorträge zu dem Thema und habe dazu jüngst ein Buch herausgebracht. Ich bin sozusagen aus einem Vollzeit-Spielsüchtigen ein Vollzeit-Kämpfer gegen Sportwetten und vor allem für mehr Prävention bei Kindern und Jugendlichen geworden.
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