Sport: System Bielefeld
Bei Herthas Trainer Falko Götz müssen sich auch Künstler wie Marcelinho der Taktik unterordnen
Yildiray Bastürk, einer von Herthas nominellen Künstlern im Mittelfeld, spielte wie ein Basketballer. Nach 25 Minuten beging er sein viertes persönliches Foul. Beim fünften wäre er wohl vom Platz geflogen. „Er hat sich nicht rausgenommen aus der harten Defensivarbeit“, sagte Falko Götz, der Trainer des Berliner Fußball-Bundesligisten am Tag nach dem 3:1-Sieg in Gelsenkirchen. Nach 68 Minuten holte Götz Bastürk unbeschadet vom Platz, Hertha beendete das Spiel in voller Mannschaftsstärke und gewann zum ersten Mal seit 34 Jahren ein Bundesligaspiel beim FC Schalke 04.
Mit seinem fast übereifrigen Arbeitseinsatz war Bastürk zum – im wahren Sinne des Wortes – Vorkämpfer eines neuen Berliner Stils geworden. „Die Mannschaft hat sich hervorragend an das taktische Konzept gehalten“, sagte Götz. „Wir wollten die Schalker beschäftigen, sie dazu bewegen, viel Laufarbeit zu betreiben“ – um dann die zu erwartende Müdigkeit der zuletzt viel beschäftigten Schalker mit gezielten Kontern auszunutzen. Geradezu planmäßig funktionierte das vor dem 2:1 durch Nando Rafael.
Der Sieg gegen den Tabellenzweiten war zwar überraschend, passte aber in die bisherige Geschichte dieser Saison. Mit spielstarken Mannschaften hat Hertha im Moment weniger Schwierigkeiten als mit den vermeintlich Kleinen der Liga. Von den Vereinen, die in der Tabelle vor ihnen stehen, haben die Berliner nur gegen die Bielefelder verloren – und die spielen ein ähnliches System wie Hertha: mit einem breiten Mittelfeld und nur einer echten Spitze.
„Die Spieler haben nicht permanent das Gefühl, dass sie selbst das Spiel machen müssen“, sagte Götz über die Begegnungen mit den Spitzenmannschaften. „Und sie haben einen ganz anderen Platz.“ Gerade Spieler wie Marcelinho und Bastürk können diese Freiheiten noch besser für ihr Spiel nutzen. Andererseits sollte gerade Herthas Mittelfeld ausreichend Qualität besitzen, um auch bei eingeschränktem Raum selbst initiativ zu werden. In solchen Fällen aber verkehren sich die Vorzüge von Herthas Systems in einen Nachteil. Wenn ohnehin kaum Platz vorhanden ist, wird das Mittelfeld zum Ballungsgebiet, in dem sich Herthas Spieler gegenseitig auf den Füßen stehen.
„Wir sind nicht die Mannschaft, die über längere Zeit das Spiel machen kann“, sagte Torhüter Christian Fiedler. Das belegt auch eine andere Statistik. Von den bisherigen vier Saisonsiegen hat Hertha drei auswärts erzielt. „Es sieht schon wieder so aus, als würden wir uns auswärts leichter tun“, sagte Fiedler. Zu Hause fühlt sich die Mannschaft offensichtlich stärker in der Pflicht, ihr eigenes Spiel zu spielen. Aber was ist überhaupt Herthas Spiel? Als „sehr konterbedacht“ bezeichnet Andreas Neuendorf den aktuellen Stil. „Aber so spielen im Moment viele Mannschaften.“ Bielefeld zum Beispiel und in der extremsten Ausführung Hannover 96. Beide sind mit diesem System weit erfolgreicher, als es viele erwartet haben. Aber beide verfügen auch nicht über die individuelle Qualität wie Hertha BSC.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass der taktische Fortschritt im Fußball vom Rande ausgeht. Ein funktionierendes System ist das Mittel der Kleinen, um individuelle Schwächen zu kompensieren. In der Bundesliga zeigen das gerade die beiden Aufsteiger Arminia Bielefeld und Mainz 05. Real Madrid hingegen braucht kein System. Zumindest glaubt Real Madrid das. Auch Trainer Falko Götz arbeitet bei Hertha daran, „ein System reinzubekommen, in dem Personen keine Rolle mehr spielen“. Generell erwartet er von seinen Spielern auch weiterhin, dass sie agieren, nicht reagieren. Doch so weit ist Hertha noch nicht. Im Moment befinde sich die Mannschaft in einem Prozess des Stabilisierens, sagt Götz. Vielleicht ist das noch eine Spätfolge der vergangenen Saison mit der Verunsicherung durch den Abstiegskampf. Manager Dieter Hoeneß will auf Sicht, dass die Mannschaft auch wieder eigenen Druck entwickelt: „Daran arbeiten wir.“