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Bissig: Lucio beeindruckte Kollegen und Gegner.

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Tagesspiegel-Wahl: Lucio ist bester Innenverteidiger/Stopper: Lucio, der Gegnerfresser

Unsere Jury hat Lucio zum besten Innenverteidiger/Stopper der Bundesliga-Geschichte gewählt. Seine Karriere erzählt auch viel darüber, unter welchen Umständen Brasilianer hierzulande ihr ganzes Können entfalten konnten.

Ende Juli wird Lucio nach München zurückkehren. Mit seinem neuen, vielleicht letzten Klub, dem FC São Paulo. 35 Jahre ist der Brasilianer inzwischen alt und kommt noch einmal für ein Sommerturnier in die Stadt. Lucio hat München vor vier Jahren verlassen – eine halbe Ewigkeit im Profifußball. Geblieben ist eine große Verehrung für einen der besten Verteidiger der Bundesliga.

Wenn man so will, hat Lucio, der eigentlich Lucimar da Silva Ferreira heißt, in München den Sommer seiner Karriere verbracht. Dreimal ist er mit dem FC Bayern Meister und Pokalsieger geworden. Hier ist er zum Weltstar geworden, der für sein Land mehr als 100 Mal aufgelaufen ist und 2002 Weltmeister wurde. Doch irgendwann wollte ihn Trainer Louis van Gaal in München nicht mehr. Lucio hat sich auf seine Weise gerächt. In seinem ersten Mailänder Sommer gewann er mit Inter die Champions League – im Finale gegen die Bayern. Inter machte 2010 das Triple perfekt und sein Trainer José Mourinho sagte über ihn: „Lucio ist die Granate unserer Abwehr. Ich kann ihm vollkommen vertrauen.“

Lucio steht einerseits für sich, für eine einzigartige Fußballbegabung. Andererseits erzählt seine Karriere auch etwas über die Brasilianer in der Bundesliga – ein Thema mit glücklichen und weniger glücklichen Kapiteln.

Die Münchner haben in Lucios Landsmann Dante einen Nachfolger gefunden. Dante ist der bislang letzte Brasilianer, den der FC Bayern verpflichtet hat, aber eben auch einer, der sich bereits in Deutschland akklimatisiert und sich an den deutschen Fußball gewöhnt hatte. Die Bayern bedienen sich schon längst nicht mehr direkt am Markt in Südamerika – zu hohe Verluste.

Unsere Jury hat Lucio hat knapp vor Jürgen Kohler gewählt. Maximal möglich wären 132 Punkte gewesen.
Unsere Jury hat Lucio hat knapp vor Jürgen Kohler gewählt. Maximal möglich wären 132 Punkte gewesen.

© Tsp

„Wir haben in der Vergangenheit nicht so gut gelegen mit jungen Brasilianern“, hat Präsident Uli Hoeneß einmal erzählt. Was untertrieben ist. Mazinho zum Beispiel brachte 1994 das Kunststück fertig, mit nur einem Einsatz Deutscher Meister zu werden. Das war Anlass für die Bayern, ihre Transferstrategie zu hinterfragen. Fortan überließen sie es anderen Vereinen, Spieler aus Brasilien zu holen. Vorzugsweise solchen, die in dieser Angelegenheit weit glücklicher gelegen haben, um sich dort dann zu bedienen. Wie etwa bei Bayer Leverkusen, den deutschen Experten in Sachen Südamerika-Transfers.

Der erste Brasilianer, der über Bayer zum FC Bayern fand, war 1992 Jorginho, später kamen Paulo Sergio (1999), Zé Roberto (2002) und schließlich Lucio (2004). Neben Giovane Elber, der 1997 aus Stuttgart kam, war Lucio vielleicht der erfolgreichste von allen.

An der Online-Umfrage haben sich wohl zahlreiche Eintracht-Fans beteiligt. So gewann Frankfurts Legende Karl-Heinz Körbel mit 327 Stimmen. Auch hier wurde Jürgen Kohler knapp "nur" Zweiter.
An der Online-Umfrage haben sich wohl zahlreiche Eintracht-Fans beteiligt. So gewann Frankfurts Legende Karl-Heinz Körbel mit 327 Stimmen. Auch hier wurde Jürgen Kohler knapp "nur" Zweiter.

© Tsp

einer Calmund, damals Manager von Bayer 04, machte im Dezember 2000 den Transfer von Lucio für rund 17 Millionen Mark von Porto Alegre perfekt. Hohe Transfersummen schreckten Leverkusen nicht ab, Lucio schrieb eine Erfolgsgeschichte fort, die 1987 mit Tita begann. 1989, nach dem Gewinn des Uefa-Pokals, folgte Jorginho, 1993 kamen Paulo Sergio und Emerson, der 1997 sieben Millionen Mark kostete, Zé Roberto war ein Jahr später schon doppelt so teuer. Diese Transfers gingen allesamt auf, weil Bayer begriffen hatte, dass für eine gelungene Integration der Brasilianer besonders zwei Punkte wichtig waren: die Familie und der Glaube. Jorginho führte damals in seinem Haus eine wöchentliche Bibelstunde ein. Lucio führte sie fort. „Lucio war ein absoluter Familienmensch mit einem starken religiösen Glauben, was ihm sowohl neben als auch auf dem Platz viel Kraft gegeben hat“, sagt Wolfgang Holzhäuser, damals wie heute Geschäftsführer der Bayer 04 Fußball GmbH. Holzhäuser möchte vor allem Lucios Menschlichkeit als „absolut vorbildlich“ hervorheben.

Brasilianer in der Bundesliga: Verfaultes Geld und Schneeallergien

Der FC Bayern hat vor zwei Jahren sein Südamerika-Scouting gänzlich eingestellt. „Wir werden keinen Spieler aus Südamerika mehr holen, das hat keinen Sinn“, sagte damals Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge. Der letzte Deal dieser Art war Breno, den die Bayern 2007 für zwölf Millionen Euro nach München holten. Heute sitzt Breno eine mehrjährige Gefängnisstrafe ab.

Die Liste der Brasilianer in der Bundesliga ist lang. Sie beginnt mit Zeze (1964, 1. FC Köln) und Raoul Tagliari (1964, Meidericher SV). 130 Brasilianer haben seitdem in Deutschlands höchster Liga gespielt. Es waren wunderbare Fußballer darunter, von Lucio über Zé Roberto, Dunga, Julio Cesar, Diego, Ailton oder Marcelinho.

Aber es gab auch Spieler, die aus unterschiedlichen Gründen nie das hielten, was man sich von ihnen versprochen hatte. Was auch daran lag, dass die deutschen Klubs erst lernen mussten, dass die Integration von Brasilianern leichter fällt, wenn sie Geborgenheit verspüren. Das ist aufwendig. „Diese umfangreiche Unterstützung umfasst auch deren Familien“, sagt Holzhäuser. Familie und Freunde gehen ihnen über alles. Das einfache Prinzip, das dahinter steht, lautet: „Nur wenn ein Spieler sich vor Ort wohl und aufgehoben fühlt, wird er auf dem Spielfeld seine beste Leistung abrufen können.“

Mittlerweile sind brasilianische Fußballer immer weniger gefragt. Ein Grund ist der Qualitätszuwachs des deutschen Nachwuchses. Erstmals seit zehn Jahren spielen wieder mehr deutsche Spieler in der Bundesliga als Spieler aus anderen Ländern. Auffällig ist bei den hiesigen Brasilianern, dass zwei Drittel von ihnen Defensivspieler sind, wie Dante, Felipe Santana, Naldo oder Fagner. Als Kreativspieler gibt es derzeit nur Diego und Roberto Firmino.

Die Gründe für diesen Trend liegen auf der Hand. „Mittlerweile hat jeder Profifußballklub Europas ein Netzwerk in Brasilien“, sagt Holzhäuser. „Mussten wir uns vor Jahren mit fünf bis zehn Konkurrenten den Markt teilen, sind dies heutzutage 200.“ Wegen der vielen Transfers aus der Vergangenheit seien brasilianische Klubs nicht mehr gezwungen, Spieler abzugeben. Auch das treibt den Preis. Mittlerweile würden brasilianische Top-Klubs Gehälter zahlen, mit denen viele europäische Klubs einfach nicht mehr mithalten könnten. Zudem locken neue Märkte in Asien, im arabischen Raum und in Südosteuropa. Allein bei Schachtjor Donezk spielen neun Brasilianer. Zusätzlich erschwert werden die Verhandlungen durch komplizierte Transferrechte, die in Brasilien auf mehrere Personen und Firmen verteilt sind. „Die vermeintlichen Besitzanteile an den Spielern sind oft undurchsichtig, das schreckt ab“, sagt Holzhäuser.

Es wäre wirklich schade, wenn immer weniger Brasilianer kämen, die nicht nur tolle Sachen auf dem Rasen bieten, sondern so manch herrliche Episode lieferten, wie die von Zeze etwa, der sich nach fünf Spielen von einem Arzt eine „Schneeallergie“ attestieren ließ, um aus der Kälte zu flüchten. Oder die wilde Geschichte von Nando, der zwischen 1989 und 1992 für den HSV spielte. Aus Angst vor der brasilianischen Steuerbehörde mauerte er 100.000 Dollar Handgeld in sein Haus ein. Als er das Geld später rausholen wollte, war es verfault.

Lucio werden sie auch in Leverkusen nicht vergessen. „Er hatte den absoluten Siegeswillen, den er auf die ganze Mannschaft übertragen hat“, sagt Holzhäuser. Er habe selten einen Spieler mit solch einer Ausstrahlung erlebt. „Die Stürmer haben allein schon durch seine Erscheinung Respekt gehabt.“ Der frühere Nürnberger Spieler Andreas Wolf drückte es mal so aus: „Lucio frisst seine Gegner auf.“

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