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Tanzen gegen Stigmatisierung: Ein inklusiver Verein kämpft ums Überleben
Menschen mit Behinderung sind auf niedrigschwellige Angebote angewiesen, und noch stärker auf Ehrenamtliche, die diese organisieren. Warum es ihnen oft an der nötigen Unterstützung mangelt, zeigt die Gruppe „Zeit zum Tanzen“.
Stand:
In den vergangenen 15 Jahren hat Jutta Schüle 25.000 Menschen bewegt – oder genauer gesagt, zum Tanzen gebracht. Die Stuttgarterin hatte während ihrer Arbeit in einer Einrichtung für psychisch erkrankte Menschen bemerkt, wie stark Stigmatisierungen wirken können. Vor allem bei Ausflügen verhielten sich andere Menschen den Erkrankten gegenüber distanziert.
Deshalb suchte Schüle nach einer Möglichkeit, vorurteilsfreie Begegnungen zwischen Menschen zu schaffen: „Und dann hab’ ich gedacht, sie müssen beschäftigt sein, sie müssen gute Laune haben, am besten kognitiv noch gefördert werden – ich lass’ die tanzen! Und es hat funktioniert.“
Aus dieser Arbeit ist 2011 „Zeit zum Tanzen“ entstanden, ein inklusiver Tanzsportverein, der Menschen unabhängig von Behinderung, sozialem oder wirtschaftlichem Hintergrund, Ausbildung und Alter zusammenbringt: Teilnehmende reichen „vom Rollstuhlfahrer bis zum Menschen mit psychischer Erkrankung, im Alter von 17 bis 91 Jahren“, so Schüle, die den Verein seit Tag eins ehrenamtlich leitet.
Viel Einsatz, wenig Sicherheit
„Ehrenamtlich“, „freiwillig“ und „Engagement“ hört man oft, wenn man sich in einem Verein in Deutschland bewegt. Der 5. Dezember ist international den Ehrenamtlichen gewidmet. Laut des Freiwilligensurveys aus dem Jahr 2024 engagieren sich in Deutschland rund 27 Millionen Menschen ab 14 Jahren ehrenamtlich. 13 Prozent davon im Sport.
Es sind vorwiegend sehr viele Menschen mit Behinderung betroffen, weil die halt keine Lobby haben, weil die auch keine Stimme haben, und weil da eben auch nicht so viel Gegenwehr kommen wird, wie von anderen.
Jutta Schüle, Gründerin von „Zeit zum Tanzen“
Auf den ersten Blick wirken die Zahlen vielversprechend. Dennoch zeigt der aktuelle Sportentwicklungsbericht des Deutschen Olympischen Sportbundes: Jeder sechste Sportverein sieht seine Existenz bedroht. Es fehlt an Ehrenamtlichen bei gleichzeitig steigenden Mitgliederzahlen und zu wenig politischer Unterstützung.
Eine der 27 Millionen Ehrenamtlichen ist Jutta Schüle. Die 67-Jährige investiert täglich zehn bis zwölf Stunden in ihren Verein: „Ehrenamt heißt einerseits natürlich, ich bringe Leistung, andererseits heißt es auch, ich bekomme unglaublich viel zurück“, sagt sie. „Sehr viel Sympathie, sehr viel Wertschätzung, sehr viel Respekt, sehr viel Menschlichkeit.“
Allein das hält den Verein jedoch nicht am Leben. Mithilfe von Sponsoren und einer städtischen Förderung konnte er seit 2011 wachsen und besteht mittlerweile aus einer Gemeinschaft von bis zu 200 Teilnehmenden beim monatlichen Tanztreff. Diese Förderung der Stadt Stuttgart steht nun jedoch auf der Kippe.
Wenn Kürzungen existenzbedrohend werden
„Zeit zum Tanzen“ droht ab 2026 eine Kürzung der städtischen Förderung, die jährlich 20.000 Euro beträgt. Das Sozialamt der Stadt, welches die finanzielle Kürzung beim Gemeinderat vorgeschlagen hat, begründet das mit der schlechten wirtschaftlichen Situation. Stuttgart müsse für das Jahr 2026 eine halbe Million Euro einsparen.
Für Schüle ist das eine Katastrophe. Ohne diese Gelder könne das Projekt nicht weiter bestehen. „Wir sind maximal verzweifelt“, sagt die Vorsitzende, die erst im Oktober von der geplanten Kürzung erfuhr. Neben dem möglichen Aussterben des Vereins, droht ihr, auf rund 1500 Euro sitzenzubleiben, weil sie die Kündigungsfrist für die Veranstaltungsräume nicht einhalten könne. Dafür würde sie privat haften.

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Mit den Geldern werden neben den Veranstaltungskosten, Tanzklamotten und -schuhe sowie Verpflegung für die Teilnehmenden bezahlt. Jeden Montagabend findet ein Training statt, und jeden zweiten Sonntag im Monat ein großer Tanztreff, für den ein Sportraum in eine Disco verwandelt wird. Außerdem tritt die Tanzgruppe aus dem Training auf. In Pflegeeinrichtungen, auf dem Rathausplatz in Stuttgart und sogar bei Special Olympics.
Das alles richtet sich besonders an Menschen, die sonst nur wenige Möglichkeiten haben, Sport zu treiben und Gemeinschaft zu erleben. Schüle kritisiert daher die Auswahl der potenziell gekürzten Angebote: „Es sind vor allen Dingen sehr viele Menschen mit Behinderung betroffen, weil die halt keine Lobby haben, weil die auch keine Stimme haben, und weil da eben auch nicht so viel Gegenwehr kommen wird, wie von anderen“, sagt sie.
Das Sozialamt argumentiert, dass es mit dem Kürzungsvorschlag keine Bewertung der bisherigen Arbeit ausdrücken wolle: „Allein schon der Umstand, dass die Stadt sie bisher gefördert hat, ist Beleg für die Wertschätzung des ehrenamtlichen Engagements für die Gesellschaft. Die Stadt kann jedoch nur Gelder ausgeben, über die sie verfügt. In Zeiten leerer Kassen kann sie nicht mehr alle Leistungen erbringen.“
Engagement für den Erhalt
Zusammen mit vielen der Teilnehmenden von „Zeit zum Tanzen“ kämpft Schüle nun für den Erhalt des Vereins. Petitionen und persönliche Statements sollen den Verantwortlichen verdeutlichen, was das Angebot vielen bedeutet. Teilnehmerin Jutta K. schreibt: „Für mich und viele Menschen, die alleine sind oder körperlich beeinträchtigt, ist der Verein sehr wichtig. Hier kann jeder sein wie er ist, dazu kommt noch die Freude am Tanzen.“
Neben dem Gemeinschaftsgefühl ist „Zeit zum Tanzen“ für viele Menschen einmalig, da es kostenlos ist: „Bei 180 Euro muss man sich sehr genau überlegen, was man tut oder was man eben nicht tut“, sagt Schüle. Nicht viel mehr zahlt eine Behindertenwerkstatt üblicherweise pro Monat.
Zwischen Hoffnung und Haushaltsdebatte
Ein bisschen Hoffnung bleibt jedoch noch. Das Haushaltsbündnis in Stuttgart aus CDU und Grünen, das letztendlich den konkreten Haushalt entscheiden wird, bedauert, dass „Zeit zum Tanzen“ auf die Sparliste gesetzt wurde. Sie seien von dem Angebot sehr überzeugt und versuchen, es zu erhalten: „Mit den negativen Konsequenzen für Frau Schüles Verein bei einer potenziellen Aufgabe von ‚Zeit zum Tanzen e.V.‘ haben wir uns bisher nicht beschäftigt, da wir uns für die Erhaltung des Angebots einsetzen“.
Auch die Ratsgruppe von SPD und Volt plädiert für den Erhalt: „Wir halten diese Planung für völlig falsch“, schreiben sie auf Anfrage der Paralympics Zeitung. Sie haben außerdem einen Änderungsantrag zum Haushaltsentwurf gestellt, um die Kürzung zurückzunehmen.
„Das Projekt ist etabliert und praktiziert die oft zitierte, jedoch oft nicht umgesetzte gelebte Inklusion, und das ohne einen hohen Aufwand an finanziellen Mitteln“, so die Begründung von SPD und Volt. Die endgültige Entscheidung über den Haushalt der Stadt Stuttgart wird am 19. Dezember fallen.
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