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Gold für Philipp Boy.

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Update

Turn-EM in Berlin: Gold für Boy, Silber für Seitz

Berlin erlebt einen großen Tag für das deutsche Turnen: Erst wird Philipp Boy nach grandioser Aufholjagd Europameister, dann holt Elisabeth Seitz sensationell Silber.

Man musste diesen Blick sehen. Diesen seligen Blick, der sich ins Irgendwo der Berliner Max-Schmeling-Halle richtete, während die Nationalhymne erklang und drei Flaggen hochgezogen wurden, die deutsche in der Mitte. Philipp Boy hatte die Hand auf die Brust gelegt, an die Stelle, an der er sein Herz vermutete. Irgendwann, während die Musik lief, kippte die Hand langsam nach unten, und man kann sich gut vorstellen, dass Philipp Boy es dort oben auf dem Podium gar nicht mitbekam. Man kann erahnen, welche Gefühle ihn da oben durchfluteten, wie er noch 30 Minuten danach fast hauchte: „Es war der Wahnsinn!“

Gold für Philipp Boy im Mehrkampf der Turn-Europameisterschaft, das allein ist noch nicht der Wahnsinn. Vier Stunden später feierte Elisabeth Seitz ihren größten Triumph und den größten Triumph des deutschen Frauen-Turnens seit Jahrzehnten. Die 17-Jährige Mannheimerin gewann Silber im Mehrkampf, nur geschlagen von der Russin Anna Dementjewa. Als letzte deutsche Turnerin hatte die DDR-Athletin Maxi Gnauck 1985 EM-Silber gewonnen. Elisabeth Seitz turnte an allen vier Geräten besser als in der Qualifikation, sie profitierte bei ihrem Coup aber auch vom Ausfall der verletzten Weltmeisterin Aliya Mustafina aus Russland.

Zwei Erfolgserlebnisse bei der Heim-EM, so etwas hatten die 5000 begeisterten Zuschauer nicht erwartet. Vor allem aber hatten sie nicht erwartet, dass Philipp Boy noch eine grandiose Aufholjagd starten würde. Denn der Mehrkampf-Vizeweltmeister hatte nach dem ersten Gerät noch auf Rang 20 gedümpelt. „Das war einer der spannendsten Wettkämpfe, die ich je geturnt habe“, verkündete Boy. Am Ende lag der Cottbuser mit 88,875 Punkten 0,05 Punkte vor dem Rumänen Flavius Koczi. Er ist der zweite Deutsche, den diesen Titel gewonnen hat. 2009 hatte Fabian Hambüchen triumphiert, aber der ist gerade verletzt. „Das ist der schönste Tag meines Lebens“, brüllte Boy ins Hallen-Mikrofon.

Nach dem ersten Gerät war es kurzzeitig nur ein frustrierender Tag. Philipp Boy lag auf Rang 20. Sein erstes Gerät war das Pauschenpferd. Ausgerechnet das Pauschenpferd. „Das ist immer der Horror“, sagte Boy, „aber als erstes Gerät sowieso.“ Und Philipp Boy patzte prompt. Dann wechselte er an die Ringe und zum Pferdsprung, beide Male lief es ausgezeichnet, und er rückte auf Rang sieben vor.

Die Achterbahn nahm am Barren Fahrt auf. Am Barren ist Boy eigentlich stark, aber diesmal setzte er mit den Beinen auf den Holmen auf, das kostete ihn einen Platz im Gesamtklassement. Er war jetzt Achter, nur der Gedanke, dass mit Reck und Boden noch zwei seiner starken Disziplinen kommen, beruhigte ihn noch. „Aber wenn ich vom Reck gefallen wäre, hätte ich mich vergraben“, sagte er später.

Doch die Nervosität stieg, denn Boy hatte nur noch den Boden zum Turnen. Er ging auf die Matte mit dem Gedanken: „Du kannst noch alles rausreißen mit einer guten Übung.“ Die Übung lief bis zur letzten Bahn nicht perfekt, aber sie lief gut. Und dann stand Boy an der letzten Bahn mit einem schlichten Gedanken im Kopf: „Hau einfach die Ruten hin.“ Turnerjargon. Bring die Beine vernünftig zum Stand, heißt das. Und als er von der Matte ging, wusste er, „es reicht“. Und verkündete glücklich: „Dass man für so einen Kampf belohnt wird, das ist der Wahnsinn.“

Aber vier Stunden nach ihm stieg auch noch Elisabeth Seitz aufs Podest, sie winkte ins Publikum, das stehend applaudierte, und sie lächelte fast so selig wie Philipp Boy. Den kleinen Jungen, der irgendwo im Publikum saß und begeistert klatschte, konnte sie nicht sehen. Er war einer ihrer größten Anhänger. Auf der Rückseite seiner Jacke stand in silbernen Buchstaben: „Fan von Elisabeth Seitz.“

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