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Paralympics in der Pandemie: Viele Para-Sportler stürzte der Lockdown in die Krise
Abgesagte Wettkämpfe und geschlossene Trainingszentren: Die Pandemie störte die Vorbereitung der Para-Sportler und trug zu mancher Sinnkrise bei.
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Es ist der 24. März 2020. „Liebe Freunde“, schreibt das Internationale Paralympische Komitee an die Landesverbände. Es folgt die Mitteilung, dass die Paralympics in Tokio aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben werden. Für die Sportlerinnen und Sportler, die die letzten vier Jahre auf dieses Event hingearbeitet hatten, ändert sich mit dieser Nachricht so ziemlich alles. Bei allem Verständnis für die Entscheidung des IPC löste die Verlegung unter den Teilnehmenden auch Unsicherheit und Zweifel aus. Stellte sich nun die Frage nach einer neuen Perspektive?
Eine Studie der Universität Paderborn, die im April 2021 veröffentlicht wurde, ergab, dass etwa 36 Prozent der befragten Athletinnen und Athleten aus dem deutschen Para-Sport im vergangenen Jahr auch mal ans Aufhören dachte. Christiane Reppe war eine von ihnen – und die Para-Triathletin entschied sich schließlich für ein vorgezogenes Karriereende. Es wäre ihre fünfte Paralympics-Teilnahme gewesen, doch diese letzte hätte die vorigen wohl getrübt. „Ich schätze einfach das Drumherum“, sagt sie. Das, was die Spiele für sie ausmachten, dass Nationen und Freunde aus aller Welt aufeinandertreffen, sei mit der Pandemie nicht vereinbar gewesen. „Es ist nie mein Hauptziel gewesen, nur dahin zu fahren, um eine Medaille zu gewinnen und dann gleich wieder abzudüsen", sagt die 34-Jährige. Neben Speerwerfer Mathias Mester, der seine Karriere verletzungsbedingt beendete, setzt auch Para-Radsportler Hans-Peter Durst dieses Mal aus.
Die große Mehrheit des deutschen Teams versuchte sich dennoch den Gegebenheiten anzupassen und setzte sich Tokio 2021 als neues Ziel. Mit einer Vorbereitung, wie sie die Sportlerinnen und Sportler gewohnt sind, war es in Zeiten von Corona aber schnell vorbei. Mit den Lockdowns schlossen zeitweise auch die Trainingszentren. Das stellte alle Beteiligten vor Herausforderungen. Einige Läuferinnen und Läufer trainierten zwischenzeitlich auf der Straße oder im Wald – was im Falle einer Prothese nicht ganz ungefährlich ist. Kugelstoßer Nico Kappel hielt sich im eigenen Keller fit und warf gegen eine ausgepolsterte Wand. Rollstuhlfechterin Sylvie Tauber verließ das Land und besuchte auf eigene Kosten ihren Trainer in Odessa, um sich in den Übungshallen in der Ukraine weiter vorzubereiten.
Manche Para-Sportler gehören der Risikogruppe an
Für die Sportlerinnen und Sportler brach eine lange wettkampflose Zeit an. Die Studie der Universität Paderborn ergab, dass 43 Prozent der Befragten zwischen März 2020 und April 2021 aufgrund der Pandemie keine nationalen oder internationalen Starts gehabt hatten. Die Qualifikation für die Spiele wurde dadurch erheblich erschwert. Wegen der Delta-Variante fiel für die Para-Triathleten sogar einer der letzten Qualifikationswettkämpfe in London ersatzlos aus. „Das war natürlich sehr schade“, sagt Bundestrainer Tom Kosmehl. Das letzte Turnier des bereits qualifizierten Para-Boccia-Profis Boris Nicolai fand im Oktober 2019 statt. „Da frage ich mich natürlich schon: Wo stehe ich heute im Vergleich zu den anderen“, sagt der Rollstuhlfahrer, der zur Corona-Risikogruppe gehört.

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Das Virus stellt für die Leistungssportlerinnen und -sportler eine enorme zusätzliche Belastung dar. Viele hatten Angst, durch eine Infektion in der Vorbereitungsphase zurückgeworfen zu werden – von einem schweren Verlauf ganz abgesehen. Para-Tischtennisspielerin Juliane Wolf trug nach einer Covid-Infektion eine Herzmuskelentzündung davon. Auch Prothesen-Sprinter Johannes Floors steckte sich an. „Da habe ich relativ lange noch etwas gemerkt, vor allem in der Atemmuskulatur.“ Mittlerweile sei er aber wieder komplett fit. Beide werden in Tokio starten. Der Großteil des deutschen Teams tritt die Reise geimpft an.
130 000 Schulkinder sollen zuschauen
Wie zuletzt schon bei den Olympischen Spielen, gelten in Tokio auch bei den Paralympics strikte Hygienevorschriften und Verhaltensregeln. „Es wird beispielsweise jeden Tag getestet und Fieber gemessen. Außerdem müssen wir schon ab 14 Tagen vor Reiseantritt in einer Kontakt-App jeden Kontakt von uns eintragen“, erklärt Karl Quade, als Chef de Mission zuständig für die Abläufe innerhalb der deutschen Mannschaft.
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Die Sportlerinnen und Sportler scheinen sich mit den Umständen arrangiert zu haben – und im Gegensatz zu den Teilnehmenden der Olympischen Spiele dürfen sie sogar auf ein wenig Stimmung in den Wettkampfstätten hoffen. Zuschauer sind wegen der Pandemie zwar auch bei den Paralympics ausgeschlossen, jedoch mit Ausnahme von Kindern als Teil eines Erziehungsprogramms. Am Sonntag war die Rede von 130 000 Schulkindern. Mit Sicherheitsabstand untereinander und Maske dürften sie aber lediglich durch Händeklatschen anfeuern, erklärte das Organisationskomitee.

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Ob dies zum Paralympics-Feeling der deutschen Athletinnen und Athleten beiträgt, bleibt abzuwarten. Die meisten von ihnen traten ihre Reise aber ohnehin mit einer gewissen Vorfreude an. „Man lebt nur einmal“, sagt die deutsche Sprinterin Irmgard Bensusan: „Ich als Athletin würde immer fahren wollen.“ Sie verlässt sich in der Pandemie ganz auf den Deutschen Behindertensportverband, der im Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sei. „Da habe ich volles Vertrauen.“ Dass die Spiele überhaupt stattfinden, bedeutet auch Para-Boccia-Spieler Nicolai viel: „Ich habe alles dafür getan, um mich zu qualifizieren. Ich habe dem Training einiges untergeordnet.“ Für viele Athletinnen und Athleten seien die Paralympics eben einfach das Größte, was man erreichen kann, sagt Nicolai.
Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.
Mona Alker, Nils Wattenberg
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