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Großes Talent, viel Ehrgeiz. Justin Kaps steht vor einer erfolgreichen Karriere - weil er gefördert wurde.

© Ralf Kuckuck/Imago

Paralympischer Sport - Schwimmer Justin Kaps: Vom abgeschobenen Alkoholikerkind zum Star im Becken

Der 18-jährige Justin Kaps ist auf dem Weg nach oben im paralympischen Schwimmen. Dabei waren seine Vorausetzungen für eine Sportlerkarriere weniger gut.

„Als ich Justin kennen gelernt habe, war er wie ferngesteuert. Zugepumpt mit Ritalin. Die Ärzte haben ihm Beruhigungsmittel verschrieben, damit seine Umgebung irgendwie mit ihm umgehen kann. Nachdem wir ein dreiviertel Jahr mit ihm gearbeitet haben, hat er das nicht mehr gebraucht.“

So beschreibt Phillip Semechin die Zeit, in der er begann, Justin Kaps zu trainieren. Kaps, der vor wenigen Monaten 18 Jahre alt geworden ist, wird in diesem Jahr voraussichtlich zum ersten Mal an den paralympischen Spielen teilnehmen - wenn sie denn in der aktuellen Entwicklung noch stattfinden. Er ist Profisportler und hat schon jetzt viel mehr erreicht, als ihm je zugetraut wurde.

Kaps Mutter war alkoholkrank, als sie mit ihm schwanger war. Sie nahm regelmäßig Drogen, sein Vater auch. Er kam mit einem Klumpfuß auf die Welt, mit einer krummen Wirbelsäule und dem fetalen Alkoholsyndrom (FASD), einer psychischen Beeinträchtigung. Zwölf Mal musste er nach der Geburt operiert werden. Seine Eltern stritten sich oft, vernachlässigten ihn, ließen ihn die meiste Zeit allein in der Wohnung. Als Kaps fünf Jahre alt war, holte ihn das Jugendamt aus der Familie raus. Seit elf Jahren lebt er in einer Pflegefamilie. Der neue Vater ist Krankenpfleger, die Mutter arbeitete vorher als Dolmetscherin, leibliche Kinder haben sie nicht.

Kurz nachdem er in die Pflegefamilie wechselte, wurde Kaps entdeckt. Die Lehrerin seiner damaligen Schule, eine Schule für Kinder mit Beeinträchtigungen, wusste, dass er gerne im Wasser war. Und Philip Semechin hatte mit dem Berliner Schwimmteam gerade ein neues Schulprojekt gestartet. Sie sichteten Kinder, die in eine spezielle Schwimmklasse gehen durften und dort gefördert wurden.

Vor einer Klassenfahrt fragte Philip Semechin Kaps Pflegeeltern und Ärzte, ob er nicht auf die ADHS-Medikamente verzichten könne. Der betreuende Arzt meinte, es würde nicht funktionieren. Semechin war anderer Meinung: „Der Junge war so ausgelastet, weil wir so viel trainiert haben. Er hat die Medikamente nicht mehr gebraucht.“ Also setzten sie sie ab. Probleme gab es keine. „Justin war plötzlich ein normaler Junge“, sagt Semechin.

Justin Kaps trainiert 30 Stunden pro Woche

Wenn man Justin Kaps heute beim Training besucht, sieht er aus wie „ein normaler Junge“. Seine Beeinträchtigungen fallen nicht auf. Mit einem durchtrainierten Körper, kurzen blonden Haaren und blauen Augen sieht er aus wie der Junge von nebenan. Nur wenn man ganz genau hinschaut fällt auf, dass seine Unterschenkel ein bisschen schlanker sind als gewöhnlich. Er kann auch nicht springen.

Justin Kaps trainiert 30 Stunden pro Woche. Seine Strecke, 400 Meter Kraul, schwimmt er mit einer Bestzeit von 4:18,3 Minuten. 0,2 Sekunden muss er noch schneller werden, um bei den Paralympics teilnehmen zu dürfen. Bis zu den Spielen ist das kein Problem, sagt Trainer Semechin. Problematischer sei, dass die Paralympics wegen des Coronavirus abgesagt werden könnten. Schon jetzt dürfen Kaps und seine Berliner Paralympics-KollegInnen nur noch mit harten Auflagen des Senats zum Training kommen, sind vom Training abgesehen in Quarantäne.

Justin Kaps sagt: „Ein Leben ohne Schwimmen wäre langweilig.“ Die Schwimmhalle ist sein zweites Zuhause, das Team seine zweite Familie. In dieser Woche schwimmt er 56 Kilometer. Das Nachmittagstraining fängt mit einer kurzen Erwärmung neben dem Becken an: Burpees, Hampelmänner. Dann ab ins Wasser. Technikübungen und Sprints, später noch Krafttraining im Fitnessstudio. Sein Programm kann er auswendig.

In den beiden Bahnen neben ihm vier TrainingspartnerInnen. Zwei Frauen mit einer Sehbehinderung, ein Mann, dem ein halber Arm fehlt, ein weiterer Mann mit Armprothese. Über ihnen an der Wand ein rotes Plakat mit der Aufschrift „Olympia 2020“, das Ziel, das alle fünf SchwimmerInnen vor den Augen haben. Die sechste in der Gruppe fehlt heute, sie ist krank.

Mehr als die Hälfe des Jahres verbringen die sechs SchwimmerInnen und Trainer Philip Semechin zusammen. Wenn sie nicht im Training sind, dann auf Turnieren, in anderen Städten, in anderen Ländern. Sie schlafen zusammen in Hotelzimmern, gehen ab und zu gemeinsam aus.

Er ist ein Beispiel dafür, was ein Mensch erreichen kann, der ehrgeizig ist und gefördert wird

„Justin kennt mich schon länger, als er irgendjemand anderen in seinem Leben kennt“, sagt Semechin. Trotzdem sieht er sich nicht als Vaterersatz, sondern sieht ihr Verhältnis mit professioneller Distanz. „Das ist mein Job. Wir arbeiten hier alle professionell. Wenn die Sportler nicht abliefern, verliere ich meinen Job.“

Ohne Semechin wäre Kaps heute nicht dort, wo er ist. Semechin und sein Team haben dafür gesorgt, dass er, genauso wie andere paralympische SportlerInnen, gefördert wird. Er konnte auf die Sporteliteschule gehen, die mit seinem Trainingsplan kombinierbar war. Er bekam Einzelunterricht, und viel Unterstützung, um den Hauptschulabschluss zu schaffen.

FASD, die Lernbehinderung, machte für Kaps die Schule schwer. Trainer Semechin sagt sein IQ liege unter 80. Er könne das, was er lernt, wie zum Beispiel beim Schwimmen, gut umsetzen. Ohne ihn als Trainer wäre er aber in einer fremden Stadt, wo er einen Wettkampf hat, hilflos und aufgeschmissen. Kaps sieht Semechin wie einen besten Freund. „Es gibt nichts, worüber ich mit ihm nicht reden kann“, sagt Kaps. Und wenn Kaps bei der Trainingsabfolge durcheinanderkommt, weil er nicht weiß, welche Übungen drankommt, helfen ihm seine TrainingspartnerInnen.

Der etwas andere Absprung. Justin Kaps vor dem Eintauchen.

© Ralf Kuckuck/Imago

Justin Kaps ist heute diszipliniert, höflich, geduldig, fair, ehrgeizig. Er jammert nicht, er zieht durch. Das sind Eigenschaften, die er nicht hatte, bevor er für das Schwimmteam entdeckt wurde. Eigenschaften, die sich alle ProfisportlerInnen antrainiert haben, sagt Trainer Semechin. Diese Eigenschaften würde Kaps auch auf andere Lebensbereiche übertragen, bei der Arbeit sei er immer pünktlich und zuverlässig.-

Kaps ist ein Beispiel dafür, was ein Mensch erreichen kann, der ehrgeizig ist und gefördert wird. „Vom abgeschobenen Alkoholkind bis zur Eliteschule des Sports und in die deutsche Nationalmannschaft“, sagt Semechin. „Ich habe einen riesen Respekt vor dem Mann. Er hat echt was drauf.“ Inzwischen würden viele der Para-NachwuchssportlerInnen zu ihm hochschauen und ihn als Vorbild sehen. Als Kaps im letzten Jahr zum ersten Mal für die Nationalmannschaft bei den Weltmeisterschaften antreten durfte, belegte er den fünften Platz.

Mit 18 durfte er den Kontakt zu seinem leiblichen Vater wieder aufnehmen

Ein siebenjähriger Junge schaut ganz besonders zu ihm hoch. Kaps kleiner Bruder Jamie. Vor vier Jahren haben seine Pflegeeltern dem damals Dreijährigen aufgenommen. Auch er hat Klumpfüße. Und er wollte schon von Anfang an das machen, was sein großer Bruder macht. Justin Kaps wird rot, wenn man ihn darauf anspricht. Er freut sich, dass er ein Vorbild für seinen kleinen Bruder ist. Seit ein paar Monaten ist Jamie alt genug, um bei den Paraschwimmern zu trainieren.

Kaps Pflegeeltern, die ihn adoptiert haben, unterstützten ihren Sohn von Anfang an. Den Kontakt zu seinen leiblichen Eltern hatte ihm das Jugendamt untersagt, als er in der Pflegefamilie aufgenommen wurde. Als er elf Jahre alt war, wurde ihm mitgeteilt, dass seine leibliche Mutter nicht mehr lebt. Vermutlich starb sie an einer Überdosis Drogen.

Als Kaps vor wenigen Monaten 18 wurde, durfte er den Kontakt zu seinem leiblichen Vater wieder aufnehmen. Der ist inzwischen clean und arbeitet als Maler. Sie treffen sich ein bis zwei Mal im Monat. Letztes Jahr, bei den deutschen Meisterschaften in Berlin, saßen nicht nur seine Pflegeeltern auf der Zuschauertribüne, sondern auch sein leiblicher Vater. Kaps holte den ersten Platz.

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