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Der 100-Meter-Lauf ist nicht nur die Königsdisziplin der Leichtathletik, sondern auch hochkomplex.

© Kitty Kleist-Heinrich

Unser Zehnkampf vor der Leichtathletik-EM: Wie ich handgestoppte 9,81 Sekunden sprintete

Wer über 100 Meter schnell sein will, muss das Laufen neu erlernen. Unser Autor hat es versucht. Teil fünf unserer Serie zur Leichtathletik-EM.

Laufen, springen, werfen – die Disziplinen der Leichtathletik sind Sport in seiner klassischsten Form. Doch sie sind schwieriger auszuüben, als sie aussehen. Bis zur Europameisterschaft vom 7. bis 12. August in Berlin probieren wir in unserer Serie „Tagesspiegel-Zehnkampf“ zehn Disziplinen unter professioneller Anleitung aus und beschreiben, worauf es dabei ankommt.

100 Meter also, ich befinde mich auf halber Strecke. Meine Oberschenkel brennen, meine Arme schwingen abwechselnd mit. Es fühlt sich nicht richtig an, was ich hier mache, weil das alles, die Bundesjugendspiele, das Sprinten und das Verausgaben in dieser Form, schon sehr lange her ist. Außerdem hätte ich auf den Spaghettiteller vor einer Stunde verzichten sollen. Im Ziel steht die Fotografin, deren Mundwinkel bei meinen verunglückten Aufwärmübungen zuvor immer verdächtig nach oben gehuscht sind. Hat es derart bescheuert ausgesehen und muss sie sich nun vor lauter Lachen zusammenreißen, dass sie die Kamera ruhig hält? Vor allem aber: Wie schnell bin ich noch nach all den Jahren? Gleich werde ich es erfahren.

Die Frage, wer am schnellsten über 100 Meter sprinten kann, ist seit jeher die spannendste in der Leichtathletik. Jesse Owens, Armin Hary, Ben Johnson, Carl Lewis, Katrin Krabbe, Florence Griffith-Joyner oder zuletzt Usain Bolt – die größten Attraktionen waren immer die 100-Meter-Läufer. Vermutlich liegt der Reiz dieser Disziplin an ihrer Reduziertheit: Start, Ziel, dazwischen 100 Meter, das war’s.

Was einfach aussieht und vor vielen Jahren sicher auch einfach war, ist inzwischen hochkomplex, wie mir Sven Buggel erklärt. Buggel ist Sprint-Leichtathletiktrainer am Olympiastützpunkt Berlin und will mir im Mommsenstadion den 100-Meter-Sprint innerhalb einer Stunde beibringen. Der 36-Jährige, ein ausgesprochen freundlicher Mensch, hält mir meine Unqualifiziertheit schon durch sein Äußeres vor. Ein ärmelloses Funktionsshirt ziert seinen drahtigen und gleichsam muskulösen Körper. Buggel war vor seiner Trainertätigkeit selbst ein erfolgreicher Sprinter, er nahm an mehreren deutschen Meisterschaften teil. Durch seine verspiegelte Sonnenbrille blicke ich in mein müdes Gesicht. Wir stehen an den Startblöcken. „Das Geheimnis am Start ist“, sagt er, „an gar nichts zu denken.“ Das könnte mir liegen.

Aber beim Start sind wir noch lange nicht. Buggel meint es ernst. Die Beine kurz durchschütteln und dann ab in die Blöcke, geht nicht. Das Aufwärmprogramm gestaltet sich für mich besonders schwierig. Buggel will mir verschiedene Übungen beibringen. Den sogenannten Kniehub, also das Hochziehen der Knie beim Laufen, bekomme ich problemlos hin. Schwieriger ist die Bewegungskombination aus Standwaage, Ausfallschritt und ersten schnellen Schritten nach vorne. Lustig wird es für die Fotografin, als ich asymmetrische Koordinationsübungen ausführen soll. So hat Buggel in kurzen Abständen kleine Hütchen aufgestellt. Diese soll ich mit einem Bein per Kniehub überqueren, während der Knieeinsatz des anderen Beins normal sein soll. Ich bekomme es nicht hin, bleibe irgendwann wie erstarrt stehen. Es ist mir peinlich. Aber es hilft nichts. Buggel ist ja erst am Anfang seiner Lektion.

Trainer Sven Buggel erklärt, woraus es beim Start ankommt. Ganz wichtig demnach: Am besten an gar nichts denken.

© Kitty Kleist-Heinrich

„Es geht im Grunde im Sprint darum, das Laufen neu zu erlernen“, sagt er. Man müsse einen federnden Laufstil hinbekommen. Die Beine, speziell die Sehnen müssten so eingesetzt werden, dass die Energie, die Richtung Boden führe, auch wieder zurückkomme. „Wie ein Ball, der zurückprallt. Und je mehr Luft in ihm ist, desto höher prallt er ab“, sagt Buggel und schaut in mein schlaffes Gesicht. Anschließend hopse und federe ich ein paar Meter die Bahn im Mommsenstadion hinunter. Ich komme mir dämlich vor, aber Buggel sagt: „Das ist es. Das ist es.“

Entweder er meint es ernst oder er will die Trainingsstunde langsam beenden. Er geht mit mir die unterschiedlichen Etappen durch: Block-Position am Start, dann die Beschleunigungsphase auf den ersten 15 bis 20 Metern, anschließend die sogenannte Pick-up-Phase, in der die Geschwindigkeit weiter gesteigert und später lange gehalten werden muss. „Usain Bolt kann seine Top-Geschwindigkeit bis auf 80 Meter halten“, sagt Buggel. „Bei dir werden es vermutlich 30 Meter sein. Da sind 100 Meter natürlich lang.“ Buggel will mich nicht kränken. Er sagt einfach nur, wie es ist.

Nach kurzer Einführung über die perfekte Blockposition geht es los. Buggel sagt, dass es nicht auf die Zeit ankomme, sondern mehr darauf, wie ich laufe. Ich solle wieder so schön federn. Aber ich will nicht federn, ich will die Chance nutzen. Es wird vermutlich der letzte gestoppte 100-Meter-Lauf meines Lebens werden.

Buggel brüllt „Los!“, ich erhebe mich mehr aus dem Block, als dass ich herausschnelle. Die Beschleunigungsphase ist schnell vorbei, jetzt halten. Vor mir ist nur noch das Ziel und die Fotografin. Ich drücke den Oberkörper kurz vor der Ziellinie nach vorne, als gäbe es eine elektronische Messung. Ich glaube, ich war gar nicht so schlecht. Buggel kommt langsam auf mich zu. Er grinst, ich freue mich schon. Dann sagt er: „9,81 Sekunden, Wahnsinn.“ Mit ist natürlich klar, dass das nicht stimmen kann. Mit dieser Zeit wäre ich letztes Jahr Weltmeister geworden. Warum sagt er mir nicht meine richtige Zeit? Will er mir meine Langsamkeit nicht vorhalten? Ich weiß es nicht.

So verlasse ich leicht unbefriedigt das Mommsenstadion und tröste mich damit, dass ich jetzt schön hopsen kann.

Bisher erschienen: Dreisprung (20. Juli), Hürdensprint (24. Juli), Kugelstoßen (26. Juli), Gehen (28. Juli)

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