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In Stutthof starben etwa 65 000 Menschen. Bruno D. war hier von August 1944 bis April 1945 Wachmann.

© Imago/Newspix

Einer der letzten NS-Prozesse beginnt: Wie viel Schuld trägt Bruno D.?

Mit 17 kam er als Wachmann ins KZ Stutthof. Mit 93 steht Bruno D. jetzt vor Gericht – in einem der letzten NS-Verfahren. Rekonstruktion eines Lebens.

Als Bruno D. zum ersten Mal von Stutthof hört, steht der Ortsname wie eine Drohung im Raum. Sein Vater hatte eine flapsige Bemerkung über den Krieg gemacht. Ein paar Worte, die so ausgelegt werden konnten, als zweifle er an Hitlers Endsieg. „Dann haben sie ihn abgeholt“, erinnert sich Bruno D. viele Jahrzehnte später. Seinem Vater wird gedroht, dass er nach Stutthof gebracht würde, ins Lager. Die Familie lebt nicht weit entfernt von diesem Ort, in einem Dorf im Umland von Danzig. Am Ende kommt der Vater noch einmal davon. Es ist Bruno D., der einige Jahre später in dieses Lager geschickt wird – nicht als Häftling, sondern als Wachmann.

80 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs muss sich Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 5230 Menschen im Konzentrationslager Stutthof verantworten. Am Donnerstag beginnt der Prozess vor dem Landgericht Hamburg, es ist eines der letzten NS-Verfahren in Deutschland. Der 93 Jahre alte Angeklagte wurde von Rechtsmedizinern als verhandlungsfähig eingestuft, ein Prozesstag soll jedoch nicht länger als zwei Stunden dauern. Das Verfahren gegen einen anderen früheren Wachmann in Stutthof vor dem Landgericht Münster musste Ende 2018 eingestellt werden, weil sich der Gesundheitszustand des 94-jährigen Angeklagten massiv verschlechtert hatte.

Da Bruno D. zum Tatzeitpunkt erst 17 beziehungsweise 18 Jahre alt war, steht in Hamburg nun ein Greis vor einer Jugendstrafkammer.

Insgesamt starben in Stutthof etwa 65.000 Menschen

Das Lager Stutthof wurde bereits kurz nach Kriegsbeginn eingerichtet. Die ersten Gefangenen waren polnische Intellektuelle aus Danzig. Im Laufe des Krieges wurden immer mehr Juden nach Stutthof deportiert. Der Lagerkommandant Paul Werner Hoppe erhielt im Sommer 1944, etwa zu der Zeit, als Bruno D. dort ankam, den Befehl zur Tötung der Juden. Insgesamt starben in diesem Lager etwa 65.000 Menschen.

Doch wie kommt ein junger Mann, dessen Vater beinahe in Stutthof inhaftiert worden wäre, selbst als Wachmann an diesen schrecklichen Ort? Mithilfe von mehreren Hundert Seiten Ermittlungsakten, die dem Tagesspiegel vorliegen, lässt sich der Weg von Bruno D. aus einem westpreußischen Dorf an einen der Tatorte des nationalsozialistischen Massenmords an den Juden nachzeichnen. Denn in mehreren Vernehmungen, deren Protokolle in den Akten zu finden sind, kommt der Angeklagte ausführlich zu Wort.

Das Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof .
Das Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof .

© Piotr Wittman/dpa

Schon in der Schule fühlt sich Bruno D. als Einzelgänger. Er wird von anderen verprügelt, Mitschüler nehmen ihm den Apfel weg, den er dabeihat, und fordern, dass er, der Bauernsohn, am nächsten Tag mehr mitbringt. Er weigert sich und wird wieder geschlagen. Seine Eltern sagen ihm dazu nur, wenn er niemandem etwas tue, dann werde ihm auch keiner etwas tun. Diese kleine Geschichte aus seiner Schulzeit erzählt Bruno D. den Hamburger Ermittlern, die etwas über sein Leben erfahren wollen. Er habe niemandem etwas getan, betont er. Und es scheint, als ob er diesen Satz nicht nur auf seine Kindheit bezogen wissen will.

Sie verbieten ihrem Sohn, der Hitlerjugend beizutreten

Brunos Eltern haben einen Hof mit 63 Morgen Land. Schon als Kind hilft er bei der Feldarbeit, sonntags geht die Familie in die Kirche. Nach acht Jahren Volksschule beginnt er eine Bäckerlehre in Danzig. Bis dahin ist er kaum über die Grenzen seines Dorfes hinausgekommen. Der Vater gehört der Zentrumspartei an und ist ehrenamtlicher Gemeindevorsteher. Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernehmen, darf der Vater dieses Amt nicht mehr ausüben. Die Eltern stehen dem NS-Regime distanziert gegenüber. Sie verbieten ihrem Sohn, der Hitlerjugend beizutreten. „Ich durfte nicht und wollte auch nicht.“

Während der Lehrzeit tritt er dann doch in die HJ ein. Er sei gezwungen worden, behauptet er. Außerdem seien alle anderen schon dabei gewesen. Wenn es stimmt, was Bruno D. den Ermittlern erzählt, besteht die Mitgliedschaft nur auf dem Papier. Zu den Treffen geht er nicht. Er habe sich „rausgehalten“.

Bei der Musterung 1943 will der Arzt ihn schon für kriegsverwendungsfähig erklären, aber Bruno D. erwähnt einen alten Herzfehler. Er wird nach einer Untersuchung für ein Jahr zurückgestellt und als untauglich für den Kriegsdienst eingestuft. Auf Nachfrage der Ermittler gibt er zu, dass er mit dem Hinweis auf die Herzkrankheit auch den Einsatz an der Front umgehen wollte. Er habe „das System überhaupt nicht unterstützen“ wollen.

Doch dem Militärdienst kann Bruno D. nicht entgehen. Mit 17 Jahren wird er eingezogen und nach der Grundausbildung zum Wachdienst in Stutthof abkommandiert. Seine Kameraden und er haben abwechselnd Dienst auf den Wachtürmen. Gelegentlich begleitet er Häftlinge zu einem Arbeitseinsatz oder steht in einer der Postenketten rund um das Lager. Kurz nach seiner Ankunft erkrankt er und kommt mit dem Verdacht auf Diphtherie in eine Danziger Klinik.

Nach Leuten wie ihm haben Nazi-Jäger lange überhaupt nicht gesucht

Nach seiner Rückkehr Anfang August 1944 wird er wie die anderen Wachleute zum SS-Totenkopfsturmbann versetzt. Er erhält eine neue Uniform und unterschreibt dafür ein Formular. Dieses Dokument, ein sogenannter Bekleidungsnachweis, wird mehr als sieben Jahrzehnte später die Ermittler auf die Spur des „SS-Schützen“ Bruno D. bringen.

Nach Leuten wie ihm haben Deutschlands Nazi-Jäger lange überhaupt nicht gesucht. Die Justiz verfolgte nur jene, denen ein konkreter Mord nachgewiesen werden konnte. Die meisten ehemaligen Wachleute blieben unbehelligt.

Bruno D. baut sich nach kurzer Kriegsgefangenschaft eine neue Existenz in der Bundesrepublik auf. Weil er als Bäcker nicht genug Geld verdient, arbeitet er als Lastwagenfahrer. Er heiratet, wird Vater von zwei Töchtern und fängt als Hausmeister in einer Bank an. Die Familie kauft ein Haus in Hamburg, in dem Bruno D. und seine Frau heute noch wohnen. Er sei stolz auf das, was er „im Leben geschafft“ habe, sagt er.

Demjanjuk als Präzedenzfall

Hätte es vor zehn Jahren in München nicht einen Prozess gegen John Demjanjuk gegeben, einen früheren Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, dann würde Bruno D. jetzt nicht in einem Hamburger Gerichtssaal sitzen. Im Fall Demjanjuk hatte der Jurist Thomas Walther beharrlich darauf hingearbeitet, den Tatbestand der Beihilfe zum Mord auch auf Wachleute in Vernichtungslagern anzuwenden, weil sie den fabrikmäßig organisierten Massenmord unterstützten und so erst möglich machten.

2011 wurde Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung legten Revision ein. Bevor das Urteil rechtskräftig werden konnte, starb der 91-Jährige.

Im Archiv des Stutthof-Museums stießen die Ermittler auf den Bekleidungsnachweis mit Bruno D.s Unterschrift.
Im Archiv des Stutthof-Museums stießen die Ermittler auf den Bekleidungsnachweis mit Bruno D.s Unterschrift.

© Piotr Wittman/p-a/dpa

Nach dem Münchner Prozess gegen Demjanjuk fingen die Ermittler an, nach anderen noch lebenden ehemaligen Wachleuten zu suchen. Es kam zum Prozess gegen Oskar Gröning, den „Buchhalter von Auschwitz“, und gegen Reinhold Hanning, der in Auschwitz Wachmann gewesen war. Im Archiv des Stutthof-Museums stießen die Ermittler auf den Bekleidungsnachweis mit Bruno D.s Unterschrift.

Auch in Stutthof gab es eine Gaskammer, in der Menschen mit Zyklon B qualvoll getötet wurden. Um noch mehr Juden in kurzer Zeit ermorden zu können, wurde ein Waggon der Schmalspurbahn, die ins Lager führte, ebenfalls zur Gaskammer umgebaut. In der Zeit von August 1944 bis April 1945, die Bruno D. als Wachmann im Lager verbrachte, wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft Hamburg nachweislich mindestens 200 Menschen in einer der beiden Gaskammern ermordet. Wahrscheinlich lag die Opferzahl deutlich höher.

Fleckfieber, ein Massensterben begann

Andere Häftlinge wurden durch Genickschüsse hingerichtet. SS-Männer in weißen Kitteln führten sie einzeln zu einer angeblichen Untersuchung. Der Häftling sollte sich an eine Wand stellen, um seine Körpergröße messen zu lassen. Doch die angebliche Messlatte war in Wirklichkeit eine Zielvorrichtung für den SS-Mann, der im Nebenraum wartete und durch eine Öffnung in der Wand schoss.

Die meisten Häftlinge starben allerdings auf andere Art: durch Mangelernährung und Hunger, durch das Fehlen hygienischer Mindeststandards und die Verweigerung medizinischer Hilfe. Die Bedingungen im Lager waren im letzten Kriegsjahr gezielt so gestaltet, dass sie nach einiger Zeit zum Tod führen mussten. Kranke und völlig entkräftete Menschen wurden zum Sterben in eine dafür bestimmte Baracke gebracht, sie erhielten nicht einmal mehr Wasser. Als im November 1944 auch noch eine Fleckfieberepidemie ausbrach, unternahm die Lagerleitung nichts, um die Krankheit einzudämmen. Ein Massensterben begann. Auf diese Weise kamen während Bruno D.s Zeit im Lager nach Angaben der Hamburger Ermittler mindestens 5000 Menschen ums Leben. Stutthof war nicht nur ein Lager, sondern auch ein Ort des systematischen Massenmords.

Das Verfahren gegen einen früheren Wachmann in Stutthof vor dem Landgericht Münster musste Ende 2018 eingestellt werden, weil sich der Gesundheitszustand des 94-Jährigen verschlechtert hatte.
Das Verfahren gegen einen früheren Wachmann in Stutthof vor dem Landgericht Münster musste Ende 2018 eingestellt werden, weil sich der Gesundheitszustand des 94-Jährigen verschlechtert hatte.

© dpa

All das kann dem 18-jährigen SS-Mann Bruno D. nicht verborgen geblieben sein. Von dem Wachturm, auf dem er steht, hat er einen Überblick über das Lager. Er sieht, wie Häftlinge morgens die Leichen derer, die in der Nacht gestorben sind, aus den Baracken tragen. Das sei nach dem Ausbruch des Fleckfiebers passiert. „Da sind täglich viele Tote gewesen“, gibt Bruno D. auf die Fragen der Ermittler zu Protokoll. Die Leichen – nackte, „ausgemergelte Körper“ – hätten „stapelweise“ zwischen den Baracken gelegen und seien von Häftlingen auf Wagen geladen und dann zum Krematorium gebracht worden. Zusätzlich wurde ein „Scheiterhaufen“ errichtet, auf dem Leichen verbrannt wurden. „Weil das Krematorium die ganzen Leichen nicht schafft“, sagt Bruno D. Zugleich betont er, dass diese Menschen an einer Krankheit gestorben seien.

Das Lager war spätestens im Herbst 1944 vollkommen überfüllt, weil Transporte mit Juden aus Ungarn, dem Baltikum und aus Lagern im Osten ankamen. Doch davon will der Wachmann nichts bemerkt haben.

"Ich hab’ da mal irgendwie von Ferne diese Schreie gehört"

In den Vernehmungen im Hamburger Polizeipräsidium wird Bruno D. wortkarg, als es um die Morde in den Gaskammern geht. Schon kurz nach seiner Ankunft im Lager wusste er, dass es sie gab. Doch er behauptet, nicht ein einziges Mal gesehen zu haben, wie Menschen in die Gaskammer oder den umgebauten Bahnwaggon gebracht wurden. Ob er denn die Schreie der Opfer nicht gehört habe? „Ich hab’ da mal irgendwie von Ferne diese Schreie gehört.“ Die Toten in der Gaskammer will er nicht gesehen haben. Aber er müsse doch gemerkt haben, dass sich in dem Lager ein Massenmord abspiele, wendet der Oberstaatsanwalt in einer Vernehmung ein. Bruno D. murmelt etwas, das nicht zu verstehen ist. Auf Nachfrage sagt er nur: „Ich finde darauf keine Antwort.“

Am Ende der vielen Befragungen spricht Bruno D. doch noch vom „Massenmord“. Doch er meint nicht die Gaskammer, nicht die Erschießungen, nicht das gezielte Verhungernlassen der Häftlinge. Er spricht von den Bombenangriffen auf deutsche Städte in der Endphase des Weltkrieges, vom „Massenmord, der da von den Alliierten begangen worden ist“.

Viele Menschen in Stutthof starben durch Mangelernährung und Hunger, durch das Fehlen hygienischer Mindeststandards und die Verweigerung medizinischer Hilfe.
Viele Menschen in Stutthof starben durch Mangelernährung und Hunger, durch das Fehlen hygienischer Mindeststandards und die Verweigerung medizinischer Hilfe.

© Mateusz Ochocki/AFP

Die Staatsanwaltschaft Hamburg wirft Bruno D. vor, als SS-Wachmann in Stutthof die „heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ zu haben. „Zu den Aufgaben des zur Tatzeit 17- und 18-jährigen Angeschuldigten im Rahmen des Wachdienstes gehörte es, die Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern.“ Bruno D. sei ein „Rädchen in der Mordmaschinerie“ gewesen.

An den Verbrechen im Lager habe er sich nicht beteiligt, beteuert der Angeklagte. Sein Gewehr sei schon seit der Grundausbildung nicht mehr benutzt worden. „Ich hab’ niemanden ermordet.“ Er selbst hätte gegen die Verbrechen auch nichts tun können. „Was konnte ein 17-Jähriger, der dazu gezwungen wurde, dort Wache zu stehen, was konnte der unternehmen dagegen?“ Noch einmal kommt Bruno D. auf das Erlebnis seines Vaters zu sprechen. Wenn er selbst ein falsches Wort gesagt hätte, wäre er sofort verhaftet worden, glaubt er.

"Ich hätt’ nur mir selber geschadet"

Im Prozess wird die Frage zu klären sein, ob er nicht doch eine Wahl hatte, ob es für ihn die Möglichkeit gegeben hätte, von diesem Ort des Massenmordes wegzukommen, statt sich mitschuldig zu machen am Tod der Häftlinge. Nach Überzeugung der Staatsanwälte hätte er jederzeit um Versetzung an die Front bitten können. Dadurch hätte sich im Lager aber nichts geändert, wendet Bruno D. ein. „Ich hätte niemandem geholfen. Niemandem. Ich hätt’ nur mir selber geschadet.“

Um sein eigenes Leben nicht an der Ostfront aufs Spiel zu setzen, bleibt Bruno D. auf seinem Wachturm, sieht Tag für Tag Leichen und hofft darauf, dass der Krieg bald vorbei sein wird. Selbst an diesem Ort glaubt er offenbar, sich „raushalten“ zu können.

Doch 75 Jahre nach seiner Ankunft in Stutthof muss Bruno D. nun von seinen Anklägern erfahren, dass man sich an einem solchen Ort nicht raushalten kann.

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