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Reinhard Scholtis in seiner Werkstatt.

© Deike Diening

Motorräder Marke Eigenbau: Reinhard Scholtis außergewöhnliches Rennfahrerleben

Eines waren die Motorräder von Reinhard Scholtis immer: Einmaligkeiten. So wie der ganze Mann. Seine Avus-Rennen hat er immer gewonnen. Nun ist er 81 – und schraubt an seiner nächsten Maschine.

In der Überzeugung, dass einer an den Rädchen in seinem Leben selbst drehen kann, hat Reinhard Scholtis bis in der Nacht um eins am Kabelbaum gesessen. Er hat die komplizierte Elektrik auseinanderklamüsert, auf dass sich auch diese Ansammlung von Teilen entgegen aller Wahrscheinlichkeit zu einem Motorrad zusammenfinden werde. Es wird in jedem Fall schnell sein.

Früh an einem Februarmorgen steht Reinhard Scholtis in einem grobgrünen Strickpullover vor dem Rahmen einer RD359 CC Yamaha 4L0, in die er über Jahre gesammelte „Rennteile“ eingebaut hat. 17-Zoll-Räder, weil die kleinen Durchmesser in den Kurven ein besseres Fahrverhalten haben. Die Spezialform des Tanks hat er selbst konstruiert. Das Federbein stammt aus der Formel 1, vom Rennmaschinen-Teile-Markt in Hockenheim. Wenn alles klappt, wird zur Motorradsaison im April „eine sorgfältig zurechtgemachte Hochleistungs-Zweitaktmaschine“ erst einmal für die Straße zugelassen. Ohne Verkleidung wird sie vielleicht 240 km/h fahren. „Aber noch interessanter ist die Konstruktion – die gibt es auf der Welt nur einmal.“ Darum geht es. Das waren die Maschinen dieses Rennfahrers immer: Einmaligkeiten. Wie der ganze Mann.

Offizieller Spitzname: „der fliegende Bleistift“

Wo kein Werkzeug hängt, kein Pokal steht, in dieser Wunderkammer von einer Werkstatt, da hängt ein Bild. Eines zeigt den Fahrer vor dem Start: Die großen Hände liegen auf den Oberschenkeln, die Maschine unter ihm wirkt wie geschrumpft, der Fahrer groß und dünn wie eingesogen in eine dunkle Lederpelle, der Reißverschluss vom Schritt bis zum Kinn. Das ist der junge Reinhard Scholtis, „so lang, so dünn und fliegt so oft“. Offizieller Spitzname: „der fliegende Bleistift“.

In den 60ern fuhr Scholtis etliche Rennen. Sie nannten ihn den „fliegenden Bleistift“.
In den 60ern fuhr Scholtis etliche Rennen. Sie nannten ihn den „fliegenden Bleistift“.

© Deike Diening

„Heute bin ich ja mehr als Kuli unterwegs …“, kommt die Stimme nun aus dem Nebenraum. Es dauert ewig, bis die Sparlampen im Kronleuchter Licht geben, aber dann erhellen sie im Raum hinter der Werkstatt ein großartiges Sammelsurium aus Motorradstiefeln, Fotos, Helmen, Ersatzteilen, Trophäen. Vor einer etwas deplatziert wirkenden Wohnzimmerschrankwand steht eine grüne Kawasaki.

Diese Dinge bilden das Sediment aus einem ganzen Leben, gefiltert durch die 81 Lebensjahre des Reinhard Scholtis, hindurchgesunken durch die Jahrzehnte bis auf den Grund dieser Ladenwerkstatt in Köln-Zollstock.

Der ehemalige Rennfahrer hat in den Sechzigern auf der Berliner Avus gesiegt und hält einen „Ewigkeitsrekord“ auf dem Nürburgring. Aber im Unterschied zu anderen hat er seine Maschinen immer selbst gebaut. „Die Rennen waren eigentlich immer Testfahrten für meine Eigenkonstruktionen.“

Die Maschine - maßgeschneidert

Zunächst nahm er den Rahmen einer Adler-Maschine und kombinierte dazu nach den Gesetzen der Strömungstechnik, was gut lief und möglichst wenig wog. Hinter seinen Namen setzte man in Klammern: „Adler-Eigenbau“. Fasziniert schrieb die Zeitschrift „Motorrad“ in Heft 13 von 1966: „Weiter kann man sich ja nun wirklich nicht um ein Motorrad herumfalten. Die Maschine ist für Scholtis maßgeschneidert.“ Es hieß: „Die Lenkerstummel sind so angeschellt, dass man eine rennmäßige Sitzposition einnimmt.“ Die Arme lagen am Tank an.

Eine Erkenntnis aus diesem Leben: Kränze aus Eichenlaub taugen nicht für die Ewigkeit. „Das Laub ist verrottet“, sagt Scholtis. Die Kränze mit Styroporkern jedoch, mit den goldfarbenen Blättern darauf, die man ihm 1966 und 1967 nach den Avus-Siegen über den Kopf streifte, schimmern an der Wand: „Dem Sieger“ in der 250er- und 350er-Motorrad-Klasse, die Schleifen porös versteift. Auf dem Regal darunter bäumt sich zwischen glänzend aufgereihten Pokalen ein Bronze-Pferd auf. Eine Drehbank, der Amboss, die Werkzeugwand. Mit Vorhängen hat Scholtis Bereiche abgetrennt, wo weitere Motorräder stehen. Es hängt dort sogar das Stethoskop eines Arztes, mit dem er die Motoren abhört.

Das kleine, aber entscheidende Teil einer Maschine zu besitzen - darauf kommt es an

Scholtis erzählt, wie er sich ins Fahrerlager der Formel 1 schmuggelte, um an spezielle Werksreifen zu kommen. Er hält eine Eloge auf den Zweitaktmotor und warum der im Grunde der effizienteste Motor der Welt sei. Leider wurde er nicht weiterentwickelt.

Und weil es nun etwas fußkalt wird in der Werkstatt, führt Scholtis ins Nachbarhaus, in die Wärme seiner Küche, schon früh am Morgen hatte er ein paar Briketts aufgelegt. Jetzt hängt er je einen Teebeutel in zwei Yamaha-Tassen und setzt sich an den Tisch vor einen roten Aktenordner, auf dem „Avus“ steht. Doch es wäre zu einfach, sich nur durch den siegreichen Teil seines Lebens zu blättern.

Reinhard Scholtis würde sein Leben am schnellsten Punkt vielleicht auf 320 km/h beschleunigen. Aber zunächst einmal musste er 1933 in Danzig geboren werden. Startnummer: zwei. Als zweites von sieben Geschwistern. 1943 kaufte der Vater, ein Kunstmaler, im Umland von Danzig noch einen Bauernhof für die Familie. Scholtis erinnert sich, wie er als Pimpf von der Hitlerjugend „abhaute“ und im Herbst 1944 bei einer Artillerieeinheit landete, wo er mit seinen zwölf Jahren nicht explodierte Splitterbomben einsammelte, deren Zünderrädchen oxidiert waren. Er hat auf einer Position, die „Kalfaktor“ hieß, Kartuschen geputzt und Bodenzünder ausgetauscht.

Eines Tages verriet ihm ein Soldat, wie wertvoll die Schiffchen in den Nähmaschinen waren. Der Junge begriff: Man könnte alle Nähmaschinen besitzen. Oder nur deren Schiffchen mit den Spulen. Das liefe quasi auf dasselbe hinaus. Scholtis hatte sein Geschäft entdeckt.

Was hält die Dinge am Laufen?

Im Umkreis von fünf Kilometern hatte bald keine der herrenlosen Nähmaschinen auf den verlassenen Bauernhöfen mehr ein Schiffchen. Im Umkreis derselben fünf Kilometer fehlten auch an allen Reifen die Ventile. Fehlten an den Motorrädern die Zündmagneten. „Das wurde immer knapper, das Zeug.“ Man konnte es dem Jungen wieder abkaufen.

Er verinnerlichte, dass es darauf ankam, das kleine, aber entscheidende Teil einer Maschine zu besitzen. Die Frage ist ja: Was hält die Dinge am Laufen?

Von nun an ging es darum, sich selbst zu helfen. Das Detail zu achten. Aufmerksam zu bleiben. Einen Schritt vorauszudenken. Es führt eine bemerkenswert direkte Linie von dem Jungen, der Bodenzünder, Luftventile und Nähmaschinenschiffchen ausbaute, zu dem Rennfahrer, der seine Maschinen selbst konstruiert.

Als der Krieg vorbei war, war Scholtis der Tod schon in vielerlei Form begegnet. Er hatte die meterhohe Knochenasche im KZ Stutthof gesehen, „damit düngten die Bauern ihre Weizenfelder“. Dass ihn danach nichts mehr zu schrecken schien, ging im Wirtschaftswunderdeutschland als genau die Unerschrockenheit durch, die ein Rennfahrer gut gebrauchen konnte.

Aber bitte, sollte ihn später sein Chirurg bei der Entlassung nach einem Unfall auf dem Nürburgring fragen: Ob er nicht beim nächsten Rennen die Thrombosestrümpfe für die Operation schon beim Start tragen könne? Dann müssten sie ihm die nachher nicht mehr mühsam überstreifen, bevor sie ihn wieder zusammenflickten … Scholtis absolvierte das nächste Rennen mit OP-Strümpfen. Hatte aber keinen Unfall mehr.

Mit dem Brustkorb auf dem Tank

1953 war die ganze Familie nach Köln umgesiedelt. Scholtis lernte Klempner und Installateur, dann besuchte er die Maschinenbauschule, brach aber nach fünf Semestern ab. Da hatte er schon die ersten Motorräder konstruiert, war 1963 in Hockenheim das erste Rennen gefahren, „mit selbst gestricktem Gerät“: 8. Platz beim Juniorpokal der Amateure.

Und jetzt öffnet Scholtis doch noch seinen roten Avus-Ordner. Es schmitzt einen der junge Mann an, Mitte 30, lässig den Siegerkranz umgehängt, die Motorradbrille auf den Halbschalenhelm geschoben. Die Fahrer, sagt Scholtis, gingen damals in den Avus-Turm „Weiße mit Saft“ trinken. „Aber ich habe meistens geschraubt – ich musste ja gewinnen." Und Tatsache: „Alle Rennen, die ich auf der Avus gefahren bin, habe ich gewonnen.“

Ein Bild zeigt ihn steil in der schrägen Nordkurve hängend, die sie die „Todeskurve“ nannten. „Die Zentrifugalkraft drückt einen nach unten, man kommt nicht mehr hoch. Man raste mit dem Brustkorb auf dem Tank und dem Kinn auf dem Tankdeckel hindurch.“

Dafür hat einer wie er nicht die Avus überlebt, um dann in Köln umgefahren zu werden

Bei der Avus denken die meisten zuerst an Autorennen, die Geschwindigkeitsrekorde aus der Nazizeit, den legendären Silberpfeil, den Porsche-Fahrer, der aus der steilen Nordkurve getragen wurde und starb, überhaupt an die vielen Todesopfer und die Tatsache, dass diese Steilkurve 1967 abgerissen wurde. Scholtis kennt natürlich die Diskussionen darum, ob die Unfälle in dieser Kurve durch ihre bauliche Konstruktion verursacht waren. Scholtis glaubt das nicht. Er glaubt, ihr Geheimnis zu kennen: „Nicht nach oben gucken!“ Wer nach oben schaute, wurde hinausgetragen.

Bei Regen durfte man einen weißen Strich nicht überqueren. „Und auf der Avus hat es ja eigentlich immer geregnet – da musst du Dachreifen fahren: Dunlop Racing KR 73“, sagt Scholtis. Das waren spitz zulaufende Reifen mit geringer Auflagefläche, möglichst klein, „sonst fährst du ja nur Gummi spazieren“.

Dreht Scholtis in seiner Küche den Kopf nach links zu den Fotos, ist er wieder dort: in der Kurve. Er, der sich nach einem entfernten Verfolger umsieht. Und dann im Cabrio stehend bei der Ehrenrunde in Berlin, 1966 und 1967, den Siegerkranz umgelegt, die Haare verwuschelt im Wind, im Gesicht sein seliges 60erJahre-Grinsen. Neben ihm der Zweit- und Drittplatzierte, im Hintergrund der Funkturm, die vollen Tribünen.

Er ist immer Amateur geblieben

Weiter links an der Fotowand ist seine Mutter zu sehen, die 100 wurde, aber auf dem Bild ist sie so um die 20. Da spielt er selbst als Kind am Strand mit seinem Bruder. Scholtis, Deutscher Juniormeister 1967/68, sagt: „Aufgrund meiner Rennerfahrung habe ich die Kawasaki-Vertretung gekriegt.“ Es war die erste in Köln. Von 1968 bis 1985 war er Händler für Yamaha und Kawasaki.

„Ich hatte ja noch etwas anderes zu tun, als Rennen zu fahren“, sagt Scholtis, der immer ein Amateur geblieben ist. Dann zeigt er Fotos von sich mit einem Metalldetektor in der Hand. Seine außergewöhnlichen Kenntnisse von Zündern und Munition wurden noch einmal benötigt. Scholtis hatte schon in den Ardennen nach den Überresten amerikanischer Soldaten gesucht, nun sollte er das auch auf den Philippinen tun. In einem siebenköpfigen Team, er der einzige Deutsche, hat er in den 80ern im Auftrag des amerikanischen Verteidigungsministeriums US-Soldaten gesucht. Oder das, was von ihnen noch zu finden war.

Unfallfolgen und Schmerzensgeld

„Das Schlimme ist: Als alter Rennfahrer hast du keinen mehr, der die Pokale abstaubt“, kokettiert Scholtis nun. Aber Staub ist gar nicht sein Problem. Unten steht noch der Rahmen einer 250er-Yamaha-Werksmaschine von 1983. „Werksmaschinen existieren nur ein oder zwei Jahre.“ Dann würden sie entweder verschrottet oder abgegeben. „Zum Beispiel an mich!“ – „Stündlich“ wartet er deshalb auf einen Anruf aus Dänemark, ob es mit einem Motor für den Rahmen etwas wird. Stattdessen ruft sein Anwalt an. „Scholtis?“

Es geht um Unfallfolgen und Schmerzensgeld. Im vergangenen September hat ihn ein Rechtsabbieger auf der Straße in Köln geschnitten. Hätte er nicht die Maschine losgelassen und wäre er nicht abgerollt wie früher ... So aber hatte er mit seinen 80 Jahren einen seriellen Rippenbruch, vier Rippen, die zum Teil die Lunge durchstoßen hatten. Er hatte irre Schmerzen und nahm Morphium. Aber dafür hatte einer wie er nicht auf der Avus die Nordkurve überlebt, um dann in Köln-Zollstock umgefahren zu werden!

Scholtis ist nach seinen Siegen auf der Avus nie wieder nach Berlin gefahren. Es gab keinen Grund. Die Flachkurve, die die gefährliche Steilkurve ersetzte, hat ihn nie interessiert. Aus der rheinischen Ferne verfolgt er, wie heute die Tribünen verrotten, obwohl man daraus ein spektakuläres Eingangstor zur Stadt machen könnte. Er wundert sich, dass keiner aus dem alten Glanz, dem Berliner Kuriosum, etwas zu machen weiß, wo sie doch sonst in der Hauptstadt immer so kreativ sind. „Aber wenn ich sehe, was die für den Flughafen ausgeben – da wird doch wohl noch eine Kurve drin sein!“ Dann würde er noch einmal kommen. Vielleicht im Avus-Turm eine Weiße trinken? Ach was, trinken. Fahren würde er.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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